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Die Perfekte LГјge
Blake Pierce


Ein spannender Psychothriller mit Jessie Hunt #5
„Ein Meisterwerk der Thriller und Mystery-Romane. Blake Pierce hat hervorragende Arbeit geleistet, indem er Charaktere entwickelt hat, die so gut beschrieben sind, dass wir uns in ihren Köpfen fühlen, ihren Ängsten folgen und ihren Erfolg herbeiwünschen. Dieses Buch garantiert Ihnen aufgrund der vielen Wendungen Spannung bis zur letzten Seite."

–-Bücher und Filmkritiken, Roberto Mattos (Verschwunden)



DIE PERFEKTE LГњGE ist Buch Nr. 5 in einer neuen Psychothriller-Reihe des Bestsellerautors Blake Pierce, dessen Bestseller Verschwunden (kostenloser Download) Гјber 1.000 FГјnf-Sterne-Rezensionen hat.



Als eine wunderschöne, beliebte Fitnesstrainerin in einer wohlhabenden Vorstadt tot aufgefunden wird, wird die Profilerin und FBI-Agentin Jessie Hunt, 29, hinzugezogen, um herauszufinden, wer sie getötet hat. Doch die verschachtelten Geheimnisse, die diese von Affären heimgesuchte Vorstadt birgt, sind anders als alles, was sie bisher erlebt hat.



Mit wem hat diese Frau geschlafen? Wie viele Ehen hat sie zerstört?



Und warum wollte man ihren Tod?



DIE PERFEKTE LÜGE ist ein Psychothriller mit unvergesslichen Charakteren und mitreissender Spannung. DIE PERFEKTE LÜGE ist das fünfte Buch einer neuen, fesselnden Serie, die Ihnen schlaflose Nächte bescheren wird.



Buch #6 in der Jessie Hunt Serie wird in Kürze erhältlich sein.





Blake Pierce

DIE PERFEKTE LГњGE




DIE PERFEKTE LГњGE




(EIN SPANNENDER PSYCHOTHRILLER MIT JESSIE HUNT – BAND FÜNF)




BLAKE PIERCE



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSIE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU-PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.



Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!



Copyright © 2019 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright nikita tv, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)



ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETГ–NTE FENSTER (Band #6)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELГ–ST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




KAPITEL EINS


Jessie hätte ihn fast gefasst.

Der Verdächtige war etwa zehn Meter vor ihr. Beide liefen auf dem Sand, der sich unter ihren nackten Füßen überraschend kühl anfühlte. Der Strand war praktisch leer, und sie fragte sich, wann ihre Verstärkung eintreffen würde. Der Verdächtige war größer als sie, und wenn er sich umdrehte, musste sie ihn womöglich anschießen, um ihren Vorsprung zu wahren. Das wollte sie, wenn möglich, vermeiden.

Plötzlich schien der Mann zusammenzubrechen, als er fast in greifbarer Nähe war. Aber dann erkannte sie, dass er in Wahrheit im Boden versank. Einen Moment später glitt er direkt vor ihren Augen durch den Sand.

Jessie hatte kaum Zeit, zu verarbeiten, dass er durch ein Loch im Strand gerutscht war, bevor sie spГјrte, dass auch sie in dem Loch verschwand. Sie versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten, um zu verhindern, dass sie in das Loch fiel. Aber da war nichts als loser Sand. Dennoch klammerte sie sich daran fest, selbst als sie unter der DГјne verschwand.

Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, wurde ihr klar, dass sie sich in einer Art Meereshöhle befand. Sie erinnerte sich nicht daran, wie sie dorthin gekommen war. Sie sah, wie der Verdächtige, den sie verfolgt hatte, neben ihr auf dem Bauch im Dreck lag. Er bewegte sich nicht, wahrscheinlich war er bewusstlos.

Sie blickte sich um und versuchte, ein besseres Gefühl für ihre Umgebung zu bekommen. Erst dann wurde ihr klar, dass sie stand und ihre Arme über ihrem Kopf waren. Ihre Handgelenke waren mit einem Seil gefesselt, das oben an der Höhlenwand befestigt war. Das Seil war so straff, dass ihre Zehenspitzen kaum den Boden unter ihr berührten.

Als sie langsam wieder klar wurde, kam ihr eine schreckliche Erkenntnis: Sie war schon einmal in dieser Position gewesen. Genau dieses Szenario hatte sie vor zwei Monaten durchlebt, als ihr eigener Vater, der brutale Serienmörder Xander Thurman, sie gefangen genommen und gefoltert hatte, bevor es ihr gelungen war, ihn zu töten.

War dies ein Nachahmungstäter? Wie war das überhaupt möglich? Die Einzelheiten des Vorfalls waren geheim gehalten worden. Dann hörte sie ein Geräusch und sah einen Schatten im Höhleneingang. Als er in Sichtweite kam, versuchte sie, ihn zu identifizieren. Aber er stand aufgrund der Sonne im Schatten und seine Gesichtszüge waren verdeckt. Alles, was sie sehen konnte, war die Silhouette eines großen, dünnen Mannes und der Schimmer des langen Messers in seiner Hand.

Er machte einen Schritt nach vorne und trat gegen den Körper des bewusstlosen Mannes im Sand. Der Mann, den sie zuvor verfolgt hatte. Er drehte sich um und sie sah, dass er nicht bewusstlos war. Er war tot. Seine Kehle war grob aufgeschlitzt worden, und seine Brust war mit Blut bedeckt.

Jessie schaute wieder auf und konnte das Gesicht ihres Entführers immer noch nicht sehen. Im Hintergrund hörte sie ein leises Stöhnen. Sie schaute in die Ecke der Höhle und bemerkte etwas, das sie zuvor übersehen hatte. Eine junge Frau im Teenageralter war mit geknebeltem Mund an einen Stuhl gefesselt. Sie war diejenige, die stöhnte. Ihre verängstigten Augen waren weit aufgerissen.

Auch das schien unmöglich zu sein. Es war genau das, was bereits passiert war. Beim letzten Vorfall war ein anderes Mädchen genau so gefesselt gewesen. Auch das war geheim gehalten worden. Und doch schien der Mann, der sich ihr jetzt näherte, jedes Detail zu kennen. Er war nur wenige Meter von ihr entfernt, als sie endlich sein Gesicht sah und nach Luft schnappte.

Es war ihr Vater.

Sie verstand nicht. Sie selbst hatte ihn in einem brutalen Kampf getötet. Sie erinnerte sich, dass sie seinen Schädel mit ihren Beinen zertrümmert hatte. War das ein Betrüger gewesen? Hatte er irgendwie überlebt? Das schien irrelevant, denn er hob das Messer an und bereitete sich darauf vor, es ihr in den Hals zu rammen.

Sie versuchte, einen besseren Halt zu bekommen, damit sie aufspringen und ihn nach hinten treten konnte, aber ihre FГјГџe erreichten den Boden nicht, egal wie sehr sie sich streckte. Ihr Vater sah sie mit einem Ausdruck amГјsierten Mitleids an.

„Dachtest du, ich würde denselben Fehler zweimal machen, Junikäfter?", fragte er.

Dann schwang er ohne ein weiteres Wort das Messer nach unten und zielte direkt auf ihr Herz. Sie schloss die Augen und bereitete sich auf den TodesstoГџ vor.


*

Sie keuchte, als sie ein intensives Stechen spürte – nicht in der Brust, sondern im Rücken.

Jessie öffnete ihre fest zusammengepressten Augen und stellte fest, dass sie sich gar nicht in einer Meereshöhle befand, sondern in ihrem eigenen schweißgebadeten Bett in ihrer Wohnung in der Innenstadt von Los Angeles. Seltsamerweise saß sie aufrecht.

Sie blickte auf die Uhr und sah, dass es 2:51 Uhr war. Der Schmerz in ihrem Rücken stammte nicht von einer kürzlich erlittenen Stichwunde, sondern von der Intensität ihrer letzten Physiotherapie-Sitzung des heutigen Tages. Aber der anhaltende Schmerz kam ursprünglich von dem Angriff ihres Vaters von vor acht Wochen.

Er hatte ihren Körper von knapp unter dem rechten Schulterblatt bis in hin zu ihrer Niere aufgeschlitzt und dabei Muskeln und Sehnen durchtrennt. Anschließend musste sie mit siebenunddreißig Stichen genäht werden.

Vorsichtig verlieГџ sie das Bett und machte sich auf den Weg ins Bad. Sie schaute in den Spiegel und machte eine Bestandsaufnahme ihrer Wunden. Ihre Augen wichen direkt Гјber die Narbe auf der linken Seite ihres Bauches, ein bleibendes Geschenk ihres Ex-Mannes und eines KaminschГјrhakens. Sie bemerkte kaum die Narbe aus ihrer Kindheit, die entlang eines groГџen Teils ihres SchlГјsselbeins verlief, ein Andenken des Messers ihres Vaters.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf die unzähligen Verletzungen, die sie im eigentlichen Todeskampf mit ihrem Vater erlitten hatte. Er hatte mehrfach zugestochen, vor allem an den Beinen, und hatte Narben hinterlassen, die nie mehr verschwinden würden und das Tragen eines Badeanzugs eine Herausforderung machen würden.

Ihr Oberschenkel hatte jedoch den tiefsten Stich erlitten. In einem letzten und nicht erfolgreichen Versuch, sich durch ihre Beine, die gegen seine Schläfen drückten, zu befreien, hatte er ihr diese Verletzung zugefügt. Sie humpelte nicht mehr, verspürte aber immer noch leichte Beschwerden, wenn sie Druck auf das Bein ausübte. Das war bei jedem Schritt, den sie machte, der Fall. Ihr Physiotherapeut meinte, dass die Nerven geschädigt seien und dass die Schmerzen zwar in den nächsten Monaten nachlassen, aber vielleicht nie ganz abklingen würden.

Trotzdem hatte sie die Genehmigung erhalten, wieder als forensische Profilerin für das LAPD zu arbeiten. Sie sollte morgen wieder zu arbeiten beginnen, was den besonders lebhaften Alptraum erklären könnte. Sie hatte schon viele Alpträume gehabt, aber dies war ein preisgekröntes Exemplar.

Sie band ihr schulterlanges braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und betrachtete mit ihren durchdringenden grünen Augen ihr Gesicht. Bisher war es frei von Narben und, so hatte man ihr gesagt, immer noch recht schön. Mit ihren schlanken, athletischen 1,80 Metern war sie oft mit einem Sportmodell verwechselt worden, obwohl sie bezweifelte, dass sie in nächster Zeit Sport ausüben würde. Für jemanden, der kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag stand und so viel durchgemacht hatte wie sie, dachte sie, dass sie sich ziemlich gut gehalten hatte.

Sie ging in die Küche, goss sich ein Glas Wasser ein, setzte sich an den Frühstückstisch und gab sich damit zufrieden, dass sie heute Nacht wahrscheinlich nicht mehr viel Schlaf bekommen würde. Sie war schlaflose Nächte gewohnt, vor allem damals, als sie von zwei Serienmördern verfolgt worden war. Doch nun war einer von ihnen tot, und der andere hatte sich offenbar entschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Theoretisch sollte sie jetzt also schlafen können. Aber es schien nicht so gut zu funktionieren.

Einerseits, weil sie nicht hundertprozentig sicher sein konnte, dass der andere Serienmörder, der sich für sie interessiert hatte, Bolton Crutchfield, wirklich für immer verschwunden war. Alles deutete darauf hin, dass das der Fall war. Niemand hatte ihn seit ihrer eigenen letzten Begegnung vor acht Wochen gesehen oder von ihm gehört. Nicht eine einzige Spur war aufgetaucht.

Noch wichtiger war, dass sie wusste, dass er sie irgendwie mochte. Ihre mehrfachen Interviews mit ihm in seiner Zelle vor seiner Flucht hatten eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Er hatte sie sogar zweimal vor der Bedrohung durch ihren eigenen Vater gewarnt und sich damit in das Fadenkreuz seines ehemaligen Mentors gestellt. Er schien sich von ihr entfernt zu haben. Warum konnte sie das nicht? Warum erlaubte sie sich nicht, gut zu schlafen?

Und andererseits wahrscheinlich, weil sie nie etwas loslassen konnte. AuГџerdem hatte sie immer noch physische Schmerzen. Und sie wГјrde in etwa fГјnf Stunden wieder zu arbeiten beginnen und wahrscheinlich wieder mit Hauptkommissar Ryan Hernandez zusammenarbeiten, fГјr den ihre GefГјhle, um es milde auszudrГјcken, kompliziert waren.

Mit einem Seufzer der Resignation ging Jessie offiziell von Wasser zu Kaffee über. Während sie auf ihren Kaffee wartete, lief sie in ihrer innerhalb von zwei Monaten dritten Wohnung umher und vergewisserte sich, dass alle Türen und Fenster verschlossen waren.

Dies sollte ihre neue, halbwegs dauerhafte Adresse sein, und sie war damit ziemlich zufrieden. Nachdem sie von einem sterilen, vom U.S. Marshal Service bewachten Haus, in ein anderes gewechselt war, durfte sie endlich mitbestimmen, was ihren Wohnort anbelangte. Der Dienst hatte bei der Suche der Wohnung geholfen und fГјr ihre Sicherheit gesorgt.

Die Wohnung befand sich in einem zwanzigstöckigen Gebäude, nur wenige Straßen von ihrer letzten richtigen Wohnung im Modeviertel der Innenstadt von LA entfernt. Das Gebäude hatte ein eigenes Sicherheitsteam, nicht nur eine Wache in der Lobby. Es waren immer drei Wächter im Dienst, von denen einer in der Parkgarage und ein anderer regelmäßig auf den verschiedenen Etagen patrouillierte.

Das Parkhaus war durch ein Tor gesichert, das rund um die Uhr von einem diensthabenden Wachmann besetzt war. Die rotierenden Pförtner waren alles Polizisten im Ruhestand. In den eigens für Nicht-Einwohner vorgesehenen Eingang des Gebäudes war ein Metalldetektor eingebaut. Alle Aufzüge und Einheiten hatten zwei Schlösser und Fingerabdruck-Zugangsvoraussetzungen. Jedes Stockwerk des Komplexes, einschließlich der Waschküche, des Fitnessstudios und des Schwimmbads, verfügte über mehrere Sicherheitskameras. Jede Einheit verfügte über Alarmtasten und einen direkten Gegensprechzugang zum Sicherheitspult. Und das waren nur die standardisierten Sicherheitssysteme des Gebäudes.

Es umfasste weder ihre Dienstwaffe noch die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, die die Beamten in ihrer Wohnung eingerichtet hatten. Dazu gehörten bruchsicheres und kugelsicheres Glas für die Fenster und die Terrassenschiebetür, eine doppelt so dicke Wohnungstür sowie bewegungsaktivierte und wärmeempfindliche Kameras im Inneren, die über ihr Handy ein- und ausgeschaltet werden konnten.

Schließlich gab es noch eine letzte Vorsichtsmaßnahme, die Jessie liebte. Sie wohnte tatsächlich im dreizehnten Stockwerk, obwohl es, wie in vielen anderen Gebäuden auch, angeblich nicht existierte. Im Aufzug gab es keinen Knopf dafür. Der Dienstaufzug konnte bis zum Stockwerk gelangen, aber es war ein Sicherheitsmann erforderlich, der jeden, der ihn benutzte, begleiten musste. Um unter normalen Umständen auf das Stockwerk zu gelangen, musste man auf Ebene zwölf oder vierzehn aussteigen und eine unscheinbare Tür aus dem Hauptgang öffnen, die mit „Zutritt nur für Personal" gekennzeichnet war.

Diese Tür führte in einen kleinen Raum in dessen hinterem Teil sich eine zusätzliche Tür mit der Aufschrift „Lager" befand, für die ein spezieller Schlüssel erforderlich war. Diese Tür führte zu einem Treppenhaus, das in den dreizehnten Stock führte, der wie die anderen Stockwerke aus acht Wohnungen bestand.

Aber jede dieser Wohnungen war von jemandem bewohnt, der eindeutig einen Schwerpunkt auf Privatsphäre, Sicherheit oder beides legte. In der Woche, in der Jessie hier gewesen war, hatte sie eine bekannte Fernsehschauspielerin, einen hochkarätigen Anwalt und den Moderator einer umstrittenen Radio-Talkshow im Flur getroffen.

Jessie, die bei ihrer Scheidung gut davongekommen war, hatte keine Geldprobleme. Und wegen einiger Rabatte der Strafverfolgungsbehörden, die das LAPD und der Marshal Service für sie gesichert hatten, war die Wohnung nicht so teuer, wie sie erwartet hatte. Außerdem war es die Sache wert, um ihren Seelenfrieden zu haben. Natürlich hatte sie auch von ihrer letzten Wohnung gedacht, dass sie sicher sei.

Ihre Kaffeemaschine piepte und sie holte sich eine Tasse. Während sie Milch und Zucker hinzufügte, fragte sie sich, ob auch zum Schutz von Hannah Dorsey besondere Maßnahmen getroffen worden waren. Hannah war das echte siebzehnjährige Mädchen, das von Xander Thurman gefesselt und geknebelt worden und gezwungen worden war, zuzusehen, wie er ihre Eltern ermordet und Jessie fast getötet hätte.

Jessies Gedanken waren oft bei Hannah, weil sie sich fragte, wie es dem Mädchen in ihrer Pflegefamilie ging, nachdem sie ein solches Trauma erlitten hatte. Jessie hatte etwas Ähnliches durchgemacht, als sie noch ein Mädchen war, obwohl sie erst sechs Jahre und somit viel jünger gewesen war. Xander hatte sie in einer abgelegenen Hütte gefesselt und sie gezwungen, dabei zuzusehen, wie er ihre Mutter, seine eigene Frau, gefoltert und getötet hatte.

Diese Erfahrung hatte bei ihr bleibende Schäden hinterlassen, und sie war sich sicher, dass dasselbe auch für Hannah galt. Was dieses Mädchen natürlich nicht wusste, was auch gut so war, war, dass Xander auch ihr Vater war, was bedeutete, dass sie Jessies Halbschwester war.

Den Behörden zufolge wusste Hannah, dass sie adoptiert war, kannte ihre wirklichen Eltern allerdings nicht. Und da es Jessie nach der gemeinsamen Tortur verboten war, sich mit ihr zu treffen, hatte das Mädchen keine Ahnung, dass sie verwandt waren. Trotz ihrer Bitten, mit dem Mädchen zu sprechen, und ihres Versprechens, ihre Verbindung nicht preiszugeben, waren sich alle Verantwortlichen einig, dass sie sich erst dann wieder treffen sollten, wenn die Ärzte der Meinung waren, dass Hannah damit umgehen könnte.

Jessie verstand die Entscheidung und stimmte ihr sogar zu. Aber irgendwo tiefer in ihrem Inneren spürte sie den starken Drang, mit dem Mädchen zu sprechen. Sie hatten so viel gemeinsam. Ihr Vater war ein Monster. Ihre Mütter waren Rätsel. Hannah hatte ihre nie kennen gelernt, und Jessies war nur noch eine entfernte Erinnerung. Und so wie Xander Hannahs Adoptiveltern getötet hatte, hatte er dasselbe mit Jessies Adoptiveltern getan.

Trotz alledem waren sie nicht allein. Jeder von ihnen hatte eine familiäre Verbindung, die Trost und Hoffnung auf Genesung bieten konnte. Jede hatte eine Schwester, was Jessie nie für möglich gehalten hatte. Sie sehnte sich danach, die Hand auszustrecken und eine Verbindung mit dem einzigen überlebenden Mitglied ihrer Familie herzustellen.

Und doch, selbst als sie sich ein Wiedersehen wГјnschte, konnte sie nicht umhin, sich zu fragen:

Würde es diesem Mädchen mehr schaden als nützen, mich zu kennen?




KAPITEL ZWEI


Der Mann schlich entlang des AuГџenbereichs des Wohnkomplexes und sah sich alle paar Sekunden um. Es war frГјh am Morgen, und ein gut gebauter Afroamerikaner mit Kapuzenpulli wie er, fiel zweifelsfrei auf.

Er befand sich im achten Stock, direkt vor der Wohnung der Frau, von der er wusste, dass sie hier lebte. Er wusste auch, wie ihr Auto aussah und hatte es im Parkhaus gesehen, also nahm er an, dass sie womöglich zu Hause war. Vorsichtshalber klopfte der Mann leise an die Eingangstür.

Es war noch nicht einmal sieben Uhr, und er wollte nicht, dass irgendwelche Frühaufsteher-Nachbarn ihre neugierigen Köpfe nach ihm richteten. Der Morgen war kalt und der Mann wollte die Kapuze nicht abnehmen. Aber aus Angst, er würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nahm er sie vom Kopf und setzte seine Haut dem beißenden Wind aus.

Als er keine Reaktion auf sein Klopfen erhielt, versuchte er, die Tür zu öffnen, von der er vermutete, dass sie verschlossen war. Das war sie auch. Er ging zum angrenzenden Fenster hinüber. Er konnte sehen, dass es leicht geöffnet war. Er überlegte, ob er das wirklich tun sollte. Nach einem kurzen Zögern fällte er die Entscheidung. Er riss das Fenster hoch und kletterte hinein. Er wusste, dass jeder, der ihn sah, wahrscheinlich die Polizei rufen würde, aber er entschied, dass es das Risiko wert war.

Als er drinnen war, schlich er leise in Richtung Schlafzimmer. Alle Lichter waren aus und es roch seltsam. Er konnte den Geruch nicht identifizieren. Als er sich weiter vorwärts bewegte, überkam ihn ein eiskalter Schauer, der definitiv nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Er erreichte die Tür des Schlafzimmers, drehte vorsichtig den Knopf und schaute hinein.

Dort auf dem Bett lag die Frau, die er erwartet hatte. Sie schien zu schlafen, aber etwas war seltsam. Sogar im schwachen Morgenlicht sah ihre Haut seltsam blass aus. Außerdem schien sie sich überhaupt nicht zu bewegen. Keine Auf- und Abbewegung der Brust. Überhaupt keine Bewegung. Er betrat das Zimmer und ging hinüber zum Bett. Der Geruch war nun überwältigend, ein verrottender Gestank, der seine Augen tränen ließ. Sein Magen drehte sich um.

Er wollte die Hand ausstrecken und sie berГјhren, konnte sich aber nicht dazu Гјberwinden. Er wollte etwas sagen, konnte aber keine Worte finden. SchlieГџlich drehte er sich weg und verlieГџ den Raum.

Er zog sein Telefon heraus und wählte die einzige Nummer, die ihm einfiel. Es klingelte mehrere Male, bevor ein Anrufbeantworter ansprang. Er drückte mehrere Knöpfe und wartete auf eine Antwort, als er sich in das Wohnzimmer der Wohnung zurückzog. Schließlich kam eine Stimme in die Leitung.

„110. Was ist Ihr Notfall?"

„Ja, mein Name ist Vin Stacey. Ich glaube, meine Freundin ist tot. Ihr Name ist Taylor Jansen. Ich bin zu ihrer Wohnung gefahren, weil ich sie tagelang nicht erreichen konnte. Sie liegt in ihrem Bett. Aber sie bewegt sich nicht, und sie… sieht nicht gut aus. Außerdem riecht es streng."

Das war der Moment, in dem ihn die Realität traf – die lebhafte, enthusiastische Taylor lag keine zehn Meter von ihm entfernt tot im Bett. Er beugte sich vor und übergab sich.


*

Jessie saГџ auf dem RГјcksitz, in der Hoffnung, dass es das letzte Mal sein wГјrde. Das Fahrzeug der US-Marshals fuhr in das Parkhaus des LAPD-Parkhauses beim Hauptrevier und parkte auf einem Besucherplatz. Dort stand ihr Chef, Roy Decker, und wartete auf sie.

Er sah nicht viel anders aus als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Mit fast sechzig, obwohl er viel Г¤lter aussah, war Decker groГџ und schlank, mit einem kahlen Kopf, tiefen Gesichtsfalten, einer scharfen Nase und kleinen, durchdringenden Augen. Er sprach mit einem uniformierten Offizier, stand aber offensichtlich da, um sie zu begrГјГџen.

„Wow", sagte sie sarkastisch zu den Beamten auf dem Vordersitz. „Ich fühle mich wie eine Frau im achtzehnten Jahrhundert, die formell von ihrem Vater an ihren Ehemann übergeben wird."

Der Beamte auf dem Beifahrersitz blickte sie finster an. Sein Name war Patrick Murphy, obwohl ihn alle Murph nannten. Er war klein und schlank, mit kurz geschnittenem, hellbraunem Haar, und er wirkte sensibel, was sich allerdings schnell als List herausstellte.

„Dieses Szenario würde einen Ehemann erfordern, der Sie aufnehmen wollte, was ich als höchst unwahrscheinlich empfinde", sagte der Mann, der einen Großteil ihrer Sicherheit koordiniert hatte, während sie auf der Flucht vor mehreren Serienmördern war.

Nur die geringste Andeutung eines Grinsens in seinen Mundwinkeln deutete darauf hin, dass er scherzte.

„Charmant wie immer, Murph", sagte sie nicht gerade in höflichem Tonfall. „Ich weiß nicht, wie ich mich ohne Ihre charmante Persönlichkeit an meiner Seite durchschlagen soll."

„Ich auch nicht", murmelte er.

„Und ohne Ihre einzigartige Gesprächsbereitschaft, Toomey", sagte sie zum Fahrer, einem großen Mann mit Glatze und leerem Gesichtsausdruck.

Toomey, der selten sprach, nickte schweigend.

Decker, der das Gespräch mit dem Offizier beendet hatte, sah die drei ungeduldig an und wartete darauf, dass sie aus dem Auto stiegen.

„Ich glaube, das war’s dann", sagte Jessie, öffnete die Tür und stieg energiegeladener aus, als sie erwartet hatte. „Wie geht es Ihnen, Chef?"

„Nicht so gut wie gestern", sagte er, „jetzt, wo ich Sie wieder hier habe".

„Aber Murph hat so tolle Arbeit geleistet und ich verspreche, keine Last zu sein und mir meinen Unterhalt immer selbst zu verdienen."

„Was?", fragte er ratlos.

„Oh, Papa", sagte sie und wandte sich wieder Murph zu. „Muss ich die Farm wirklich verlassen? Ich werde dich und Mutter so sehr vermissen."

„Was zum Teufel ist hier los?“, forderte Decker.

Murph versuchte, ernst zu schauen und wandte sich an den verwirrten Polizisten, der zum Auto hinГјbergegangen war.

„Decker", sagte er förmlich und überreichte ihm ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier darauf. „Die Schutzpflicht des U.S. Marshal Service ist nicht mehr erforderlich. Hiermit übergebe ich offiziell das Sorgerecht von Jessie Hunt an das Los Angeles Police Department."

„Sorgerecht?“, wiederholte Jessie gereizt. Murph ignorierte sie und fuhr fort.

„Alle zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen sind jetzt die Pflicht Ihrer Abteilung. Mit der Unterzeichnung dieses Dokuments wird dies anerkannt."

Decker nahm das Klemmbrett und unterschrieb das Papier, ohne es zu lesen. Dann Гјbergab er es Murph und schaute Jessie an.

„Gute Nachrichten, Hunt", sagte er schroff, ohne die Begeisterung, die normalerweise mit guten Nachrichten einherging. „Die Kommissare, die versucht haben, Bolton Crutchfield zu finden, haben Videomaterial von jemandem gefunden, der auf seine Beschreibung passt und gestern die mexikanische Grenze überquert hat. Vielleicht sind Sie endlich frei von dem Kerl."

„Hat das die Gesichtserkennung bestätigt?“, fragte sie skeptisch und verlor dabei zum ersten Mal die vorgetäuscht fröhliche Stimme.

„Nein", gab er zu. „Während er über die Brücke ging war sein Kopf die ganze Zeit über gesenkt. Aber er passt fast perfekt auf die physische Beschreibung, und allein die Tatsache, dass er darauf geachtet hat, nie eindeutig auf Video gesehen zu werden, lässt vermuten, dass er wusste, was er tat."

„Das sind tatsächlich gute Neuigkeiten", sagte sie und beschloss, sich darüber hinaus nicht zu äußern.

Sie stimmte zu, dass sie wahrscheinlich nicht mehr im Fadenkreuz von Crutchfield stand, aber nicht wegen eines lückenhaften Überwachungsvideos, das ihr viel zu uneindeutig erschien. Sie konnte Decker nicht sagen, dass der wahre Grund dafür ihre Vermutung war, dass der Mörder eine Schwäche für sie hatte.

„Sind Sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen?", fragte er und war zufrieden damit, dass er auf alle noch bestehenden Bedenken eingegangen war, die sie vielleicht hatte.

„Sofort", sagte sie. „Ich muss nur kurz mit den Marshals sprechen."

„Beeilen Sie sich", sagte Decker, als er sich einige Schritte entfernte. „Sie haben einen anstrengenden Tag am Schreibtisch vor sich."

„Ja", sagte sie, bevor sie sich zum Fahrerfenster hinab beugte.

„Ich glaube, ich werde Sie am meisten vermissen", sagte sie zu Toomey, der in den letzten zwei Monaten ihr erster zugeteilter Marshal war. Er nickte. Offenbar waren keine Worte nötig. Dann ging sie auf die Beifahrerseite und sah Murphy schuldbewusst an.

„Spaß beiseite, ich wollte nur sagen, wie sehr ich es schätze, was Sie alles für mich getan haben. Sie haben Ihr eigenes Leben für mich riskiert. Das werde ich Ihnen nie vergessen."

Er ging immer noch mit KrГјcken, obwohl der Gips an seinen Beinen letzte Woche entfernt und durch Gipsstiefel ersetzt worden war. Das war etwa zur gleichen Zeit erfolgt, als er die Schlinge um seinen Arm entfernen durfte.

All diese Verletzungen waren eine Folge des ZusammenstoГџes mit dem Auto, das Xander Thurman gefahren hatte, als er ihn und Jessie in einer SeitenstraГџe Гјberfallen hatte. Er hatte sich beide Beine und sein SchlГјsselbein gebrochen. Daher war er offiziell fГјr weitere vier Monate vom Dienst beurlaubt. Er war nur heute Morgen gekommen, um sich von ihr zu verabschieden.

„Fangen Sie jetzt nicht an, emotional zu werden", protestierte er. „Wir haben eigentlich diese harte Nummer am laufen. Sie vermasseln noch alles."

„Wie geht es Emersons Familie?", fragte sie leise.

Troy Emerson war der Beamte, den ihr Vater in dieser schrecklichen Nacht in den Kopf geschossen hatte. Jessie kannte bis zu seinem Tod nicht einmal seinen Vornamen, und wusste auch nicht, dass er erst seit Kurzem verheiratet war und einen vier Monate alten Sohn hatte. Sie hatte wegen ihrer Verletzungen nicht zur Beerdigung gehen können, hatte aber danach Emersons Witwe einen Brief geschrieben. Sie hatte keine Antwort erhalten.

„Kelly wird es schaffen", versicherte Murph ihr. „Sie hat Ihren Brief erhalten. Ich weiß, dass sie sich bei Ihnen melden will, aber sie braucht einfach noch etwas Zeit."

„Ich verstehe. Um ehrlich zu sein würde ich es verstehen, wenn sie überhaupt nicht mit mir sprechen wollte."

„Hey, das alles ist nicht Ihre Schuld", antwortete er fast wütend. „Es ist nicht Ihre Schuld, dass Ihr Vater ein Psychopath war. Und Troy kannte die Risiken, als er diesen Job angenommen hat. Das wussten wir alle. Sie können Mitgefühl empfinden. Aber fühlen Sie sich nicht schuldig."

Jessie nickte und wusste nicht, was sie antworten sollte.

„Ich würde Sie ja umarmen", sagte Murph. „Aber ich würde zusammenzucken, allerdings nicht aufgrund von Emotionen. Also tun wir einfach so, als ob wir es getan hätten, okay?"

„Was immer Sie möchten, Offizier Murphy", sagte sie.

„Fangen Sie jetzt nicht an, formell zu werden", bestand er darauf, während er sich vorsichtig wieder auf den Beifahrersitz des Autos setzte. „Sie können mich immer noch Murph nennen. Ich höre auch nicht auf, Sie bei Ihrem Spitznamen zu nennen."

„Der da wäre?", fragte sie.

„Nervensäge.“

Sie konnte nicht anders, als darГјber zu lachen.

„Auf Wiedersehen, Murph", sagte sie. „Geben Sie Toomey einen Kuss von mir."

„Das würde ich auch tun, ohne gefragt zu werden", rief er, als Toomey aufs Gaspedal trat und die Reifen auf dem Garagenboden quietschten.

Jessie drehte sich um und sah, wie Decker sie ungeduldig anstarrte.

„Sind Sie fertig?", fragte er schroff. „Oder soll ich mir einmal den Film The Notebook ansehen, bis Sie alle Ihre Emotionen verarbeitet haben?"

„Es ist schön, wieder hier zu sein, Chef", seufzte sie.

Er ging hinein und deutete ihr an, ihm zu folgen. Sie ignorierte das Stechen in ihrem Bein und RГјcken und joggte ihm hinterher. Sie war gerade erst dabei, ihn einzuholen, als er seinen Plan fГјr sie offenbarte.

„Erwarten Sie für eine Weile keine Feldarbeit", sagte er schroff. „Das mit dem Schreibtisch war kein Witz. Sie sind eingerostet, und ich sehe, dass Sie verzweifelt versuchen, nicht zu humpeln."

„Glauben Sie nicht, dass ich schneller wieder in die Gänge komme, wenn ich einfach ins kalte Wasser geschmissen werde?“, fragte Jessie und versuchte, nicht wie ein Bittsteller zu klingen. Sie musste zwei Schritte machen, während er einen machte, um Schritt zu halten, als er den Flur hinunterlief.

„Komisch, das ist fast genau das, was Ihr Kumpel Hernandez gesagt hat, als er letzte Woche zurückgekommen ist. Ich habe ihn auch zum Schreibtischdienst verdonnert. Und wissen Sie was? Er ist immer noch da."

„Ich wusste nicht, dass Hernandez zurück ist", sagte sie.

„Ich dachte, Sie zwei sind Busenfreunde", sagte er, als sie um die Ecke gingen.

Jessie blickte seitlich zu ihm hinГјber und versuchte festzustellen, ob ihr Chef etwas andeutete. Aber er schien es ernst zu meinen.

„Wir sind Freunde", räumte sie ein. „Aber er wollte nach seiner Scheidung und den Verletzungen ein bisschen für sich sein.“

„Wirklich?“, sagte Decker. „Sie hätten mich täuschen können."

Sie wusste nicht, was sie von dieser Bemerkung halten sollte, hatte aber keine Zeit zu fragen, bevor sie im GroГџraumbГјro des Reviers ankamen, einem groГџen Raum mit einem Durcheinander von zusammengeschobenen Schreibtischen, die alle von verschiedenen Kommissaren aus verschiedenen LAPD-Abteilungen besetzt waren. Am anderen Ende des Raums befand sich zusammen mit den anderen Kommissaren der Sonderabteilung des Morddezernats Ryan Hernandez.

FГјr einen Mann, der nur zwei Monate zuvor zweimal von ihrem Vater niedergestochen worden war (es schien, dass alle Verletzten, die sie in diesen Tagen kannte, ihre Wunden durch die Hand ihres Vaters erhalten hatten), sah Hernandez ziemlich gut aus.

Sein linker Unterarm war nicht einmal mehr bandagiert. Die andere Wunde war auf der linken Seite seines Bauches gewesen. Aber da er aufrecht stand und lachte, konnten die Schmerzen nicht mehr allzu schlimm sein.

Als Decker sie hinГјber begleitete, war sie verblГјfft, wie sehr sie sich darГјber Г¤rgerte, dass Hernandez Witze machte. Sie sollte froh sein, dass er nicht nach dem Scheitern seiner Ehe und seines Beinahe-Tods depressiv war. Aber wenn es ihm so gut ging, warum hatte er sie dann in den letzten Monaten nicht Г¶fter als zwei Mal kontaktiert?

Sie hatte sich viel mehr MГјhe gegeben, sich zu melden, und kaum eine Antwort erhalten. Sie hatte angenommen, dass es daran lag, dass er eine schwere Zeit durchmachte und war auf Abstand gegangen. Aber so wie er jetzt aussah, schien alles in bester Ordnung zu sein.

„Schön zu sehen, dass die Sonderabteilung des Morddezernats an diesem schönen Morgen so gut gelaunt ist", brüllte Decker und erschreckte die fünf Männer und die eine Frau, die die Einheit bildeten. Kommissar Alan Trembley, der wie immer zerstreut aussah, ließ sogar seinen Bagel fallen.

Die Sonderabteilung des Morddezernats war eine Abteilung, die mit hochkarätigen Fällen betraut war, die oft die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zogen. Also Morde mit mehreren Opfern und Fälle mit Serienmördern.

„Seht mal, wer wieder da ist", sagte Kommissar Callum Reid begeistert. „Ich wusste nicht, dass du heute zurückkommst. Jetzt haben wir endlich wieder etwas Klasse hier."

„Weißt du", sagte Jessie, als sie sich entschied, die Stimmung der Gruppe anzunehmen, „du könntest auch Klasse haben, Reid, wenn du nicht alle zehn Sekunden furzen würdest. Das ist keine hohe Messlatte."

Alle brachen in Gelächter aus.

„Es ist lustig, weil es wahr ist", sagte Trembley fröhlich, seine ungekämmten blonden Locken hüpften beim Lachen. Er schob seine Brille hoch, die ihm immer wieder die Nase herunterrutschte.

„Wie fühlst du dich, Jessie?“, fragte Hernandez, als der Lärm nachgelassen hatte.

„Ich komme klar", antwortete sie und versuchte, nicht abgedroschen zu klingen. „Du siehst aus, als ob du auf dem Weg der Besserung wärst."

„Es wird schon", sagte er. „Ich habe immer noch Schmerzen und Beschwerden. Aber wie ich Decker hier immer wieder sage: Wenn er mich loslassen würde, könnte ich wirklich etwas bewirken. Ich bin es leid, auf der Bank zu sitzen, Coach."

„Der wird nie alt, Hernandez", sagte Decker mürrisch, der die Analogie der Mannschaft sichtlich leid war. „Hunt, ich gebe Ihnen ein paar Minuten, um anzukommen. Dann gehen wir Ihre Fälle durch. Ich habe einen Haufen ungeklärter Mordakten, die einen neuen Blick erfordern. Vielleicht bringt die Perspektive eines Profilers die Dinge ins Wanken. Ich erwarte, dass der Rest von Ihnen mich in fünf Minuten in meinem Büro über den aktuellen Stand der Dinge informiert. Es sieht so aus, als hätten Sie die Zeit dazu."

Er ging zu seinem BГјro und murrte vor sich hin. Der Rest des Teams sammelte seine Akten ein, als Hernandez sich gegenГјber von Jessie setzte.

„Musst du über nichts berichten?", fragte sie.

„Ich habe noch keine eigenen Fälle. Ich habe die Jungs bei allem unterstützt. Vielleicht können wir jetzt, wo du zurück bist, Decker dazu bringen, uns rauszuschicken. Wir beide zusammen bilden eine fast völlig gesunde Person."

„Ich bin froh, dass du so gut gelaunt bist", sagte Jessie, die verzweifelt versuchte, sich selbst davon abzuhalten, mehr zu sagen, aber es gelang ihr nicht. „Ich wünschte, du hättest mich früher wissen lassen, dass es dir gut geht. Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich dachte, dass du dein Leben erst wieder in Ordnung bringen musst."

Das Lächeln von Hernandez verblasste, als er ihre Worte aufnahm. Er schien abzuwägen, wie er reagieren sollte. Als sie auf seine Antwort wartete, konnte Jessie trotz ihrer Verärgerung nicht umhin zuzugeben, dass der Mann sich ziemlich gut gehalten hatte, während er sich von einer schweren Verletzung und einer Scheidung erholte.

Er sah gut aus. Keine einzige Strähne seines kurzen schwarzen Haares war fehl am Platz. Seine braunen Augen waren klar und konzentriert. Und irgendwie hatte er es trotz seiner Verletzungen geschafft, in Form zu bleiben. Er hatte vielleicht drei Kilo gegenüber seiner gewohnten 100 Kilo verloren, was wahrscheinlich mit den Schwierigkeiten beim Essen direkt nach dem Aufschlitzen seines Magens zusammenhing. Aber mit einunddreißig Jahren sah er immer noch aus wie ein Mann, der oft trainierte.

„Ja, was das anbelangt", begann er zu sagen, und verstummte wieder für einen Moment. „Ich wollte anrufen, aber die Sache ist die, es ist etwas passiert und ich war mir nicht sicher, ob ich darüber reden kann."

„Was denn?“, fragte sie nervös. Sie mochte die Richtung nicht, in die das Gespräch verlief.

Hernandez blickte nach unten, als ob er darГјber entscheiden wollte, wie er am besten Гјber dieses eindeutig heikle Thema sprechen sollte. Nach vollen fГјnf Sekunden schaute er wieder zu ihr auf. Gerade als er seinen Mund Г¶ffnete, Г¶ffnete Decker seine BГјrotГјr.

„Wir haben eine Bandenschießerei in Westlake North", schrie er. „Die Schießerei läuft immer noch. Wir haben bereits vier Todesopfer und eine unbekannte Anzahl von Verletzten. Ich brauche sofort SWAT, HSS und alle Einheiten. Alle Mann an Deck, Leute!"




KAPITEL DREI


Sofort versammelten sich alle in der Mitte des Raums. Viele machten sich auf den Weg zum Lager der AusrГјstung, wo sie schwerere Artillerie und kugelsichere Westen ergatterten. Jessie und Hernandez sahen sich gegenseitig an, unsicher, was sie tun sollten. Er fing an, von seinem Sitz aufzustehen, als Decker ihn anschrie.

„Denken Sie nicht einmal daran, Hernandez. Sie kommen nicht mal in die Nähe dieser Sache."

Hernandez sackte auf seinem Stuhl wieder in sich zusammen. Sie beobachteten das Geschehen im Revier mit Interesse. Nach ein paar Minuten wurde es ruhiger, und die Гјbrigen Mitarbeiter gingen wieder an die Arbeit. Noch vor wenigen Augenblicken war das Revier mit weit mehr als fГјnfzig Personen gefГјllt gewesen und es herrschte reger Betrieb. Jetzt war es eine Geisterstadt. EinschlieГџlich Jessie und Hernandez waren weniger als zehn Personen Гјbrig.

Plötzlich hörte Jessie einen lauten Aufprall. Sie sah, dass Decker ein halbes Dutzend dicker Akten auf ihren Schreibtisch hatte fallen lassen.

„Das sind die Fälle, die Sie sich ansehen sollten", sagte er. „Ich hatte gehofft, sie mit Ihnen durchgehen zu können, aber offensichtlich werde ich in den nächsten paar Stunden beschäftigt sein."

„Gibt es Neuigkeiten zur Schießerei?", fragte sie ihn.

„Die Schießerei hat aufgehört. Die Menschenansammlung hat sich aufgelöst, als die Streifenwagen ankamen. Es gibt sechs Tote, alle von rivalisierenden Gangs. Ein weiteres Dutzend oder so sind verletzt. Etwa dreißig Beamte und ein Dutzend Kommissare durchkämmen die Gegend. Und das schließt nicht einmal das SWAT-Team mit ein."

„Was ist mit mir?“, fragte Hernandez. „Wie kann ich helfen?"

„Sie können die Fälle Ihrer Kollegen weiterverfolgen, bis sie zurückkommen. Ich bin sicher, dass sie sehr dankbar sein werden. Ich muss mich jetzt wieder um diese Bandensache kümmern."

Er eilte zurГјck in sein BГјro und lieГџ die beiden mit den Bergen von Papierkram zurГјck.

„Ich glaube, er ist absichtlich gemein", murmelte Hernandez.

„Möchtest du mir jetzt noch erzählen, was los ist?“, fragte Jessie ihn und fragte sich, ob sie ihn zu sehr drängte.

„Nicht jetzt", antwortete er und verlor dabei die Leichtigkeit seiner Stimme. „Vielleicht später, wenn wir nicht mehr im Büro sind."

Jessie nickte zustimmend, obwohl sie enttäuscht war. Anstatt zu schmollen oder in dieser unangenehmen Kopflosigkeit zu verharren, wandte sie ihre Aufmerksamkeit den vor ihr liegenden Fallakten zu.

Vielleicht bekomme ich meinen Kopf frei, wenn ich mich auf diese Morde konzentriere.

Sie kicherte schweigend Гјber ihren eigenen Galgenhumor, als sie die erste Akte Г¶ffnete.

Es funktionierte. Sie vertiefte sich so sehr in die Details der Fälle, dass fast eine Stunde verging, ohne dass sie die Zeit bemerkte. Erst als Hernandez ihr auf die Schulter klopfte, sah sie auf und erkannte, dass es mitten am Vormittag war.

„Ich glaube, ich könnte einen Fall für uns gefunden haben", sagte er und hielt provokativ ein Blatt Papier hoch.

„Ich dachte, wir sollten an keinem neuen Fall arbeiten", antwortete sie.

„Das sollten wir auch nicht", gab er zu. „Aber es ist sonst niemand hier, der ihn übernehmen könnte, und ich glaube, dass Decker uns diesen Fall tatsächlich übernehmen lassen könnte."

Er hielt das Blatt nach oben. Nicht so widerwillig, wie sie es wahrscheinlich hätte tun sollen, nahm Jessie das Blatt in die Hand. Es dauerte nicht lange, bis ihr klar wurde, warum sie eine Chance hatten, Decker davon zu überzeugen, den Fall zu übernehmen.

Der Fall schien ziemlich einfach zu sein. Eine dreißigjährige Frau wurde tot in ihrer Wohnung in Hollywood gefunden. Der junge Mann, der sie gefunden hatte, wurde zunächst verdächtigt, da ein Nachbar die Polizei gerufen hatte, da er durch ein Fenster in ihre Wohnung gestiegen war. Er behauptete jedoch, er sei ein Kollege, der nach ihr schauen wollte, nachdem er zwei Tage lang nichts von ihr gehört hatte. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen von Gewalt, und der erste Eindruck am Tatort deutete auf Selbstmord hin.

„Es scheint, als hätten sie alles im Griff. Ich bin mir nicht sicher, was wir anbieten können…"

„Ich höre ein leises 'aber'", bemerkte Hernandez lächelnd.

Jessie wollte ihm die Genugtuung nicht geben, ertappte sich aber auch bei einem leichten Grinsen.

„Aber… es gibt einen Hinweis auf ältere Blutergüsse an ihren Handgelenken und an ihrem Hals, die auf frühere Misshandlungen hindeuten könnten. Das ist wahrscheinlich eine Überprüfung wert. Und laut ihres Kollegen arbeitete sie als Personal Trainerin in einem High-End-Fitness-Club, wo sie sich auf hochkarätige Kunden spezialisiert hatte. Es ist möglich, dass einige von ihnen Stunk machen könnten, wenn sie glauben, dass das LAPD nicht genügend Ressourcen in den Fall investiert.

„Genau", sagte Hernandez aufgeregt. „Das ist unser 'ok', Jessie. So wie ich Decker kenne, wird er den guten Ruf des LAPD nicht gefährden wollen. Einen Kommissar der HSS und eine gefeierte forensische Profilerin mit dem Fall zu betrauen könnte dem entgegen wirken. Außerdem scheint es ziemlich ideal zu sein, um uns wieder ins Spiel zu bringen. Es gibt keine Anzeichen von Gewalt. Wenn es Mord war, sprechen wir wahrscheinlich von einer Vergiftung oder etwas in dieser Richtung. Es scheint ein Fall zu sein, der nichts mit Messern zu tun hat."

„Er war aber ziemlich entschlossen, uns eine Zeit lang am Schreibtisch zu lassen", erinnerte Jessie ihn.

„Ich glaube, er wird uns sein ok geben", sagte Hernandez. „Außerdem ist er so abgelenkt durch die Schießerei, dass er vielleicht ja sagt, nur um uns loszuwerden. Lass es uns wenigstens versuchen."

„Ok, ich komme mit“, sagte Jessie. „Aber ich werde ihm nicht den Vorschlag unterbreiten. Wenn er jemandem den Kopf abreißt, dann dir."

„Feigling", neckte er.


*

Jessie musste zugeben, dass Ryan Hernandez gut war.

Er musste kaum mehr als die Worte "wohlhabende Kunden", "Hollywood" und "wahrscheinlicher Selbstmord" sagen, bevor Decker sie aus der Tür führte, um den Fall zu verfolgen. Diese Schlagworte trafen alle Schwachstellen ihres Chefs: seine Angst vor schlechter Publicity, sein ständiges Ziel, seine Vorgesetzten nicht zu verärgern, und sein tiefer Wunsch, sich von Kommissar Hernandez nicht ständig bedrängen zu lassen.

Seine einzige Regel war einfach.

„Wenn es anfängt, so auszusehen, als sei dies ein Mord und der Täter irgendeine Art von Gewalt angewendet hat, bitten Sie mich um Verstärkung."

Als Hernandez und sie nun nach Hollywood fuhren, wurde ihm vor Aufregung fast schwindlig. Seinem FuГџ wurde anscheinend auch schwindlig.

„Vorsicht mit dem Gas", warnte sie. „Ich will auf dem Weg zum Tatort keinen Unfall haben."

Sie sagte nichts über ihr Gespräch von vorhin und beschloss, auf seine Initiative zu warten, sobald er bereit dazu war. Es dauerte nicht lange. Nachdem die anfängliche Eile, in einem Auto auf dem Weg zum Tatort zu sein, verblasste, blickte er in ihre Richtung.

„Also, pass auf“, begann er, wobei seine Worte viel schneller als normal aus seinem Mund kamen. „Ich hätte mich öfter bei dir melden sollen, nachdem alles beendet war. Ich meine, das habe ich anfangs ja auch getan. Aber du warst schwer verletzt und nicht sehr gesprächig, was ich vollkommen verstehe."

„Hast du?“, fragte Jessie skeptisch.

„Natürlich", sagte er, als er die Autobahn 101 an der Vine Street verließ. „Du musstest deinen eigenen Vater töten. Selbst wenn er ein Psychopath war, war er dein Vater. Aber ich war mir nicht sicher, wie ich das ansprechen sollte. Und dann war da noch die Tatsache, dass dein Psycho-Dad auf mich eingestochen hat. Das war nicht deine Schuld, aber ich hatte Angst, du würdest denken, ich gebe dir die Schuld. Ich habe also all diese Dinge gedacht, während mein Magen regelmäßig Blut verlor, ich stark mit Schmerzmitteln betäubt war und versucht habe, mich nicht ständig zu übergeben. Und gerade als ich dachte, ich wäre bereit, all das auf eine erwachsene Art und Weise zu besprechen, hat mir meine Frau formell die Scheidungspapiere überreicht. Ich wusste, dass es passieren würde. Aber es hat irgendetwas mit mir gemacht, als ich die Dokumente bekommen habe. Und all das, als ich noch im Krankenhaus war. Es hat mich irgendwie fertig gemacht. Ich bin in ein schwarzes Loch gefallen. Ich wollte nichts essen. Ich wollte keine Reha machen. Ich wollte mit niemandem reden. Aber genau das hätte ich tun sollen."

„Ich kann dir jemanden empfehlen, wenn…" begann Jessie.

„Danke, aber ich bin schon durch damit", unterbrach er sie. „Decker hat mir schließlich angeordnet, zu einem Psychologen zu gehen. Er meinte, ich würde Gefahr laufen, überhaupt nicht mehr zurück zur Arbeit zu kommen, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Also tat ich es. Und es hat geholfen. Aber zu dem Zeitpunkt waren seit dem Angriff etwa sechs Wochen vergangen, und es fühlte sich seltsam an, dich einfach aus heiterem Himmel anzurufen. Und um ehrlich zu sein, war ich mir nicht 100% sicher, ob es mir psychisch gesehen gut ging, und ich wollte nicht zusammenbrechen, während ich zum ersten Mal ernsthaft mit dir spreche, nachdem wir beide fast gestorben wären. Also habe ich es noch etwas weiter hinausgeschoben. Und dann ist da noch die andere Sache."

„Welche andere Sache?"

„Du weißt schon, dieses „nette“ Kollegen-Ding und dass es zwischen uns ab und zu merkwürdige Momente gibt, weil da vielleicht etwas ist? Das bilde ich mir doch nicht ein, oder?"

Jessie brauchte einen kurzen Moment, bevor sie antwortete. Eine ehrliche Antwort wГјrde ales zwischen ihnen Г¤ndern. Aber er hatte alles offengelegt. Es fГјhlte sich feige an, nicht dasselbe zu tun.

„Nein, das bildest du dir nicht ein."

Er lachte unbehaglich, was sich in einen heftigen Husten verwandelte.

„Geht es dir gut?", fragte sie.

„Ja, ich bin nur… ich war nervös bezüglich der letzten Sache."

Sie saßen eine Minute lang schweigend da, während er durch den Verkehr auf dem Sunset Boulevard navigierte und versuchte, einen Parkplatz zu finden.

„Das ist es also?", sagte sie schließlich.

„Das ist es", bestätigte er, als er auf einen Parkplatz fuhr.

„Weißt du", sagte sie sanft. „Du bist bei weitem nicht so cool, wie ich zuerst dachte."

„Das ist alles nur Fassade", sagte er halb scherzend.

„Das gefällt mir irgendwie. Es macht dich… erreichbarer."

„Ähm, danke."

„Nun, wir sollten wahrscheinlich noch etwas länger darüber reden", antwortete sie.

„Ich glaube, das wäre angebracht", stimmte er zu. „Aber nachdem wir die Leiche da oben angesehen haben, oder?"

„Ja, Ryan. Die Leiche zuerst. Das unangenehme Gespräch später.“




KAPITEL VIER


Es war, als ob ein Licht in Jessies Kopf angegangen wäre.

In der Sekunde, in der sie die Autotür schloss und auf das Gebäude blickte, in dem sich derzeit eine tote Frau befand, wurde ihr Kopf frei. Alle Gedanken an Serienmörderväter, verwaiste Halbschwestern und semi-romantische Beziehungen traten in den Hintergrund.

Sie und Ryan standen auf dem BГјrgersteig nahe der Ecke Sunset and Vine und blickten sich um. Dies war das Herz von Hollywood und Jessie war schon oft hier gewesen. Aber meist zum Abendessen, um auf ein Konzert zu gehen, einen Film zu sehen oder eine Vorstellung zu besuchen. Sie hatte sich nie wirklich Gedanken darГјber gemacht, dass hier Menschen lebten und arbeiteten und anscheinend auch starben.

Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass zwischen den Bürotürmen, Restaurants und Theatern viele der Gebäude genau wie jene in ihrer Nachbarschaft waren, mit Einzelhandelsgeschäften im Erdgeschoss und Wohnungen oder Eigentumswohnungen in den darüber liegenden.

Gleich die Straße hinauf sah sie einen zehngeschossigen Wohnkomplex mit einem Trader Joe's im Erdgeschoss. Gegenüber befand sich ein Fitnessstudio in einem Gebäude, das leicht zwanzig Stockwerke hatte. Sie fragte sich, ob die Bewohner kostenlose Mitgliedschaften erhielten, bezweifelte dies aber. Es war einfach unglaublich teuer hier.

Es sah so aus, als ob der Komplex des Opfers etwas weniger hochwertig wäre. Auf der Ebene der Straße befanden sich mehrere Restaurants und ein Yoga-Studio im ersten Stock. Aber es gab auch einen Walgreens und ein Bed, Bath & Beyond. Als sie auf dem Gehweg zum Haupteingang gingen, mussten sie einer Reihe von Obdachlosen ausweichen, die an der Wand des Gebäudes campierten. Die meisten schliefen noch. Eine ältere Frau saß jedoch im Schneidersitz auf dem Boden und murmelte vor sich hin.

Sie gingen kommentarlos an ihr vorbei und erreichten den Eingang des Gebäudes. Verglichen mit Jessies Gebäude war das Sicherheitssystem hier ein Witz. Es gab einen gläsernen Vorraum, für den eine Zugangskarte erforderlich war. Eine weitere wurde benötigt, um den Aufzug zu rufen. Aber als Jessie und Ryan sich dem Eingang näherten, hielt ihnen ein Bewohner die Tür auf und aktivierte den Aufzugssensor, ohne sie etwas zu fragen. Jessie bemerkte fest installierte Kameras im Vestibül und im Aufzug, aber sie sahen relativ billig aus. Ryan drückte den Knopf für den achten Stock, und innerhalb von Sekunden traten sie aus dem Aufzug, ohne auch nur ein Problem.

„Das war einfach", sagte Ryan, als sie den Außenflur in Richtung des Polizeibandes und mehrerer Polizisten gingen, die umherliefen.

„Viel zu einfach", bemerkte Jessie. „Mir ist klar, dass ich verrückt bin, wenn es um die persönliche Sicherheit geht. Aber diese Gegend ist ziemlich erbärmlich, besonders wenn man die Nachbarschaft betrachtet."

„Es ist viel sicherer als vor zwanzig Jahren", erinnerte sie Ryan.

„Stimmt. Aber nur weil man nicht an jeder Ecke Nutten und Drogendealer in Sichtweite hat, heißt das noch lange nicht, dass es jetzt Disneyland ist."

Ryan reagierte nicht, da sie die Wohnung des Opfers erreicht hatten. Er zeigte seinen Polizeiausweis vor, sie ihren LAPD-Profilerausweis.

„Kommissare der Hollywood-Abteilung sind bereits gekommen und wieder gegangen", sagte ein verwirrter Beamter.

„Wir gehen nur der Sonderabteilung des Morddezernats nach", log Ryan. „Es ist größtenteils ein Gefallen, den wir unserem Chef tun. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns den Tathergang erläutern würden, auch wenn sie alles wiederholen müssen."

„Kein Problem", antwortete er. „Offizier Wayne ist der Verantwortliche. Ich hole ihn."

Als er sich über Funk mit dem anderen Offizier in Verbindung setzte, nahm Jessie ihre Umgebung wahr. Die Haustür stand nun offen, ebenso wie ein Fenster daneben. Sie fragte sich, ob es schon so gewesen war. Es war schwer vorstellbar, dass eine alleinstehende Frau im Herzen Hollywoods ein Fenster offen lässt, wenn es über einen Außenflur zugänglich ist. Es war fast wie eine Einladung zu Problemen.

Die Wohnung des Opfers befand sich am anderen Ende des Stockwerks, das wie ein "C" geformt war. Das bedeutete, dass ihre Wohnung für andere gut sichtbar war. Sie hätte gerne gewusst, ob schon jemand diese Wohnungen abgeklappert hatte.

In diesem Moment trat ein älterer uniformierter Offizier aus der Wohnung, um sie zu begrüßen. Er war übergewichtig und kahl, mit nur noch wenigen Haaren, die an seiner verschwitzten Kopfhaut haften geblieben waren. Er schien Anfang vierzig zu sein und wirkte als hätte er schon „alles gesehen“. Das konnte je nach Stimmung ein Vorteil oder aber ein Hindernis sein.

„Offizier John Wayne", sagte er und reichte Ryan die Hand. „Ich habe bereits jeden Witz gehört, der Ihnen auf den Lippen brennt, also können Sie es einfach sein lassen. Was kann ich für Sie tun?"

„Sie haben große Ähnlichkeit", konnte Ryan nicht umhin zu sagen.

Jessie schlug ihn auf den Arm, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Polizisten richtete, der unbeeindruckt aussah.

„Tut mir Leid, Offizier Wayne", sagte sie. „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir wissen, dass die Kommissare aus Hollywood bereits am Tatort gearbeitet haben. Aber wir hatten gehofft, Sie könnten uns trotzdem herumführen. Dieser Fall weist Merkmale auf, die zu etwas passen, an dem wir arbeiten, und wir wollen ausschließen, dass es einen Zusammenhang gibt."

„Natürlich, kommen Sie rein", sagte er, trat wieder hinein und überreichte ihnen Plastiküberzüge für ihre Schuhe, als sie eintraten.

Sie zogen sie zusammen mit Handschuhen an, und gingen hinein.

„Einige ihrer Besitztümer sind bereits als Beweismittel verbucht worden", sagte Wayne. „Aber wir können Ihnen eine detaillierte Liste geben."

„Ist Ihnen etwas aufgefallen?“, fragte Ryan.

„Ein paar Dinge", antwortete der Offizier. „Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Es war Geld in ihrer Handtasche. Ihr Telefon lag auf dem Nachttisch."

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht", fragte Jessie, „würde ich mir gerne einen Moment Zeit nehmen, und mich umsehen, bevor Sie uns den Rest erzählen“.

Offizier Wayne nickte. Jessie atmete lange und tief ein, ließ ihren Körper sich entspannen und begann, ein Profil des Opfers zu erstellen. Das Wohnzimmer war spärlich mit Möbeln eingerichtet, die wie von IKEA aussahen. Es gab nur wenige Bilder und keine sichtbaren Fotos. Die einzige persönliche Note war ein gerahmtes Zertifikat ihrer Ausbildung an der Wand.

Sie ging in die fast unberührte Küche. In der Spüle befand sich kein schmutziges Geschirr, und auf dem Trockengestell lag kein sauberes. Ein sauberes, gefaltetes Geschirrtuch lag auf dem Tresen. Daneben standen mehrere Pillenbehälter, die jeweils mit Wochentagen versehen und sorgfältig in Reihenfolge angeordnet waren. Jessie rührte sie nicht an, aber soweit sie es beurteilen konnte, sahen die Pillen im Inneren wie Nahrungsergänzungsmittel und Multivitamine aus. Sie bemerkte, dass weder die Pillen für Montag noch für Dienstag eingenommen worden waren. Es war Mittwochmorgen.

Sie sah sich in der restlichen Küche um. Die Küchenrolle war fast voll. Beim Öffnen der Schränke fand sie Dutzende von Dosen mit Bohnen und Truthahn, viele Proteinriegel und mehrere Gefäße mit Proteinpulver.

Der Kühlschrank war halb leer, aber zum Inhalt gehörten zwei Packungen Milch, mehrere Behälter mit griechischem Joghurt und ein riesiger Plastikbeutel mit Spinat. Im Gefrierschrank befanden sich gefrorene Blaubeeren, Erdbeeren und Acai und ein Tupperware-Behälter mit etwas, das wie Hühnernudelsuppe aussah. Darauf klebte ein Post-it mit der Aufschrift "von Mom, 11/2018". Das war länger als ein Jahr her.

Die drei gingen den Flur hinunter in Richtung des Schlafzimmers, in dem die Leiche lag. Der Geruch von verrottendem Fleisch umhüllte Jessies Nasenlöcher. Sie versuchte, sich daran zu gewöhnen und machte dann einen Boxenstopp im Badezimmer, das nicht so aufgeräumt und sauber war wie der Rest des Hauses. Es war klar, dass die Bewohnerin hier viel mehr Zeit verbrachte.

„Wie hieß das Opfer?", fragte sie. Ihr Name stand auf dem Dokument, das Ryan ihr auf dem Revier gegeben hatte, aber sie hatte es bis jetzt absichtlich vermieden, es zu lesen.

„Taylor Jansen", sagte Offizier Wayne. „Sie war…"

„Entschuldigen Sie", unterbrach sie. „Ich will nicht unhöflich sein, aber bitte halten Sie sich mit weiteren Einzelheiten noch etwas zurück."

Sie sah sich Taylors Kommode genau an. So wenig sie sich um die Bevorratung ihrer KГјche zu kГјmmern schien, so wenig galt dies fГјr das Badezimmer. Der Schrank war voller Make-up, darunter ein offenes Lidschattenetui und mehrere Lippenstifte. Zwei HaarbГјrsten und ein Kamm waren in eine Ecke neben einer kleinen ParfГјmflasche geschoben.

Der Medikamentenschrank war voll mit rezeptfreien Medikamenten wie Advil, Benadryl und Pepto-Bismol, aber es gab keine rezeptpflichtigen Medikamenten. In der Dusche befanden sich mehrere zu einem Viertel gefГјllte Shampooflaschen und SpГјlungen, etwas Gesichtsreiniger, ein Rasierer, Rasiercreme und ein StГјck Pflegeseife.

Jessie trat aus dem Badezimmer, und der starke Geruch, der vorübergehend von den Gerüchen im Badezimmer überdeckt worden war, traf sie erneut. Sie blickte wieder den Flur hinunter und bemerkte erneut das völlige Fehlen von Persönlichem an den Wänden.

„Bevor wir ins Schlafzimmer gehen", sagte sie und wandte sich an Wayne, „lassen Sie mich wissen, wie viel davon richtig ist. Taylor Jansen ist ledig, weiß, attraktiv und Ende zwanzig bis Anfang dreißig. Sie arbeitet in der Nähe und reist viel. Sie hat nur wenige Freunde. Sie ist extrem detailorientiert. Und sie hat genug Geld, um in einer viel schöneren Wohnung als dieser hier zu leben."

Wayne Г¶ffnete kurz die Augen weit, bevor er antwortete.

„Sie war genau dreißig", sagte er. „Ihr Geburtstag war letzten Monat. Sie ist weiß und sieht sehr hübsch aus. Sie arbeitet in der Nähe in einem Fitnessstudio, das weniger als einen Block von hier entfernt ist. Wir überprüfen gerade ihren Beziehungsstatus. Aber ihr Kollege, der sie gefunden hat, sagt, dass sie derzeit keine Beziehung hatte. Er ist unten und gibt seine Aussage noch zu Protokoll, falls Sie mit ihm sprechen wollen. Ich kann nichts zu dem Thema Reisetätigkeiten und ihrem finanziellen Status sagen, vielleicht aber er.“

„Wir würden gerne mit ihm sprechen, sobald wir hier fertig sind", sagte Ryan, bevor er sich an Jessie wandte. „Bist du bereit, reinzugehen?"

Sie nickte. Es war ihr nicht entgangen, dass ihre Beschreibung von Taylor Jansen, von einigen Ausnahmen abgesehen, auch die von ihr selbst hätte sein können. Sie würde in wenigen Wochen dreißig Jahre alt werden. Ihre Wohnung in der Innenstadt war so spartanisch wie diese und nicht, weil sie keine Zeit gehabt hätte, sie zu dekorieren. Sie konnte ihre guten Freunde an ein paar Fingern abzählen. Und abgesehen von ihrer kürzlichen Heirat mit einem Mann, der versucht hatte, sie zu töten, war sie trotz ihres Gesprächs mit Ryan derzeit nicht vergeben. Wenn sie morgen sterben würde, würde sich dann die Analyse eines anderen Profilers von der jener Frau hinter dieser Schlafzimmertür unterscheiden?

„Wollen Sie welche?" fragte Wayne, als er eine nach Eukalyptus duftende Creme direkt unter seinen Nasenlöchern auftrug. Sie half, die unangenehmen Gerüche zu bekämpfen, die bald noch stärker werden würden.

„Nein danke", sagte Jessie. „So schlimm es auch ist, ich brauche alle meine Sinne in voller Stärke, wenn ich einen Tatort betrete. Einen Geruch zu verdrängen, könnte einen anderen wichtigen verdecken."

„Es ist der Bauch", sagte Wayne und zuckte mit den Achseln, als er die Tür öffnete.

Fast sofort bedauerte Jessie ihre Entscheidung.




KAPITEL FГњNF


Der Gestank war überwältigend. Die Frau musste seit zwei, vielleicht sogar drei Tagen tot sein. Sie lag ohne Decke auf dem Bett, trug eine Trainingshose und einen Sport-BH. Der Raum und ihre Position deuteten auf keine offensichtlichen Anzeichen eines Kampfes hin. Es sah nicht so aus, als ob sie zu Boden geworfen worden wäre. Es wurde nichts zerbrochen. Ihre Kleidung schien nicht beschädigt zu sein. Sie wies keine offensichtlichen Schnitte oder Kratzspuren auf.

Das bewies natürlich nichts. Wenn es sich um einen Mord handelte, hätte der Täter viel Zeit gehabt, das Zimmer aufzuräumen und Taylor zurecht zu machen, bevor er das Haus verließ. Fingerabdrücke auf Gegenständen im Raum, einschließlich der Leiche, könnten dabei eine gewisse Hilfestellung geben. Aber zumindest war nichts Ungewöhnliches sichtbar.

Jessie näherte sich, um sich das Opfer genauer anzusehen. Das Team des Gerichtsmediziners, das sie gerade in einen Leichensack stecken wollte, trat einen Schritt zurück.

Taylor Jansens Gesicht war blau und geschwollen. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Bauch, an dem sie offensichtlich so hart gearbeitet hatte, um ihn straff und flach zu halten, war nun gebläht – eine Folge der Gase, die sich nach dem Tod in ihr gebildet hatten. Selbst in diesem Zustand konnte Jessie erkennen, dass sie schön gewesen war.

„Hat sie jemand angefasst?“, fragte Ryan.

„Außer um Fingerabdrücke zu bekommen, nein", versicherte Wayne.

„Sie sieht aus, als sei sie bei einem Nickerchen gestorben", bemerkte Ryan. „Kein Wunder, dass man zunächst von Selbstmord ausging. Vielleicht waren nicht alle Tabletten, die in der Küche liegen, Vitamine. Ich bin sehr gespannt auf den toxikologischen Bericht."

Jessie beugte sich nach vorne und bemerkte die dumpfen Blutergüsse an Taylors Handgelenken und Hals. Wegen der Hautverfärbung und der Blähungen war es schwer zu sagen, wie alt sie waren. Aber wenn sie raten müsste, ging sie davon aus, dass sie bereits vor zwei Tagen dort gewesen waren.

„War das Fenster neben der Haustür schon die ganze Zeit offen?“, fragte Jessie. „Oder hat es jemand geöffnet, nachdem sie gefunden worden war?"

„Nach Angaben ihres Kollegen war es bei seiner Ankunft leicht geöffnet. Er sagte, er habe an die Tür geklopft und versucht, sie zu öffnen. Aber sie war verschlossen, also stieg er durchs Fenster, um hineinzugelangen."

Jessie nickte, wandte sich von Taylors Körper ab und ging zu ihrem Schrank. Sie schob die Schiebetür auf und blickte hinein. Es sah aus, als bestünde ihr Schrank zu drei Vierteln ausschließlich aus Trainingsklamotten und Dessous. Sie drehte sich wieder zu Ryan und Offizier Wayne.

„Wir müssen auf jeden Fall mit ihrem Kollegen sprechen", sagte sie.


*

Vin Stacey sah unglГјcklich aus, als er auf dem RГјcksitz des auГџerhalb des Komplexes geparkten Streifenwagens saГџ.

„Wird er festgenommen?“, fragte Jessie den gelangweilt aussehenden Beamten, der neben dem Auto stand.

„Nein. Wir haben ihn nur gebeten, hier zu bleiben, bis Sie alle runterkommen und mit ihm reden können."

„Weiß er, dass er nicht im Auto warten muss? Denn er sieht aus, als ob er denkt, dass er festgenommen wird."

„Wir haben die Art unserer Anfrage nicht speziell erklärt", gab der Offizier schüchtern zu. „Wir baten ihn nur, im Fahrzeug zu warten, um für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen."

„Er glaubt also, er sei verhaftet?“, sagte Jessie ungläubig.

„Ich weiß nicht, was er glaubt, Fräulein. Wir haben nur die Anfrage gestellt."

Jessie schaute zu Ryan hinüber, der nicht annähernd so wütend schien, wie sie sich fühlte.

„Bist du damit einverstanden?", verlangte sie.

„Nein", sagte er. „Aber ich kann nicht leugnen, dass ich diese Taktik schon einmal angewendet habe. So kann man jemanden dazu bringen, vor Ort zu bleiben, ohne ihn formell verhaften zu müssen."

„Aber ich dachte, er wäre nicht mehr verdächtig", konterte Jessie.

„Jeder ist verdächtig. Das weißt du."

„Okay", räumte Jessie ein. „Aber jetzt sitzt er da und alle laufen an ihm vorbei und denken, er wäre wegen irgendetwas verhaftet worden."

„Ich denke, wir sollten das dann langsam aufklären", sagte Ryan.

Jessie runzelte die Stirn, bevor er die HintertГјr Г¶ffnete.

„Herr Stacey?", fragte sie und verlor dabei die Überlegenheit, die sie gerade hatte. Ihre Stimme war jetzt ganz sanft.

„Ja", antwortete er zitternd.

„Warum steigen Sie nicht aus dem Fahrzeug aus? Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Mein Kollege und ich waren noch oben, um einige Fragen zu klären. Wir hatten gehofft, Ihnen noch ein paar Fragen zu stellen, wenn es Ihnen nichts ausmacht."

„Ich habe die Fragen aller beantwortet", plädierte er. „Ich weiß nicht, warum ich in Schwierigkeiten bin."

„Sie sind nicht in Schwierigkeiten, Herr Stacey", versprach sie. „Kommen Sie da raus. Mein Name ist Jessie Hunt. Ich bin Kriminalprofilerin für das LAPD. Das ist Kommissar Ryan Hernandez. An der Ecke dort ist ein Café. Was halten Sie davon, dass wir Sie auf einen Kaffee einladen? Dann können wir uns unterhalten.“

Er nickte und stieg aus dem Fahrzeug aus. Erst dann wurde Jessie klar, wie kräftig er war. In seiner vollen Größe war er leicht 1,90 Meter groß. Jessie vermutete, dass er 110 Kilo wog. Er trug ein körperbetontes, langärmeliges Trainingshemd, das seine markanten Bauchmuskeln hervorhob. Seine Bizeps sahen aus, als könnten sie jeden Moment sein Shirt platzen lassen.

Trotz seiner imposanten Art spürte sie Sanftheit in seiner Haltung. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass er eine enge Halskette mit einem Regenbogenanhänger trug und seine Fingernägel funkelnd violett lackiert waren.

„Ich vermute, dass Sie auch in Taylors Fitnessstudio arbeiten?", sagte sie und versuchte, die Stimmung auf dem Weg zum Café etwas aufzuhellen.

Er nickte, reagierte aber nicht. Ryan folgte ihnen und spürte deutlich, dass seine Anwesenheit ihre Versuche, eine Verbindung zu Stacey herzustellen, behindern könnte. Auf dem Weg zum Café bemerkte Jessie, dass der Mann seine Handgelenke vorsichtig rieb.

„Sind Sie okay?“, fragte sie.

„Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich fühle mich so leer. Ich saß da und wartete und wusste, dass ein so fröhlicher Mensch wie sie plötzlich nur noch dieses kalte, leblose Objekt war, das nur wenige Meter von mir entfernt lag. Es tut weh, nur daran zu denken. Und Ihre Leute haben es nur noch schlimmer gemacht."

„Das ist blöd gelaufen", räumte Jessie ein.

„Wussten Sie, dass die Beamten mir Handschellen angelegt haben, als sie bei Taylor ankamen?", druckste er. „Ich saß nur die ganze Zeit vor der Tür und wartete auf sie. Und einer von ihnen legte mir Handschellen an, während der andere die ganze Zeit seine Hand an seinem Pistolenhalfter hatte. Ich war derjenige, der den Notarzt gerufen hat!"

„Das tut mir wirklich leid, Herr Stacey", beruhigte sie ihn. „Leider müssen die Beamten, wenn sie am Tatort eintreffen, Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die im Nachhinein übertrieben erscheinen könnten.

„Sie hielten mich eine halbe Stunde lang in Handschellen fest, lange nachdem sie meinen Ausweis gesehen und überprüft hatten, ob ich aktenkundig bin, was ich natürlich nicht bin. Und lange nachdem sie die Bestätigung erhalten hatten, dass ich ein Kollege von Taylor bin. Das alles, während sie tot in ihrem Bett lag. Ich denke, wir wissen beide, dass man Sie anders behandelt hätte, wenn Sie den Notruf getätigt hätten und dort gewartet hätten.

„Stimmt", sagte sie und nickte mitfühlend, als sie das Café betraten. Sie schaute den Beamten an, der ihnen gefolgt war, und wies ihn an, draußen zu warten.

„Sie waren also Kollegen, sagten Sie. Sie sind beide Fitnesstrainer?", fuhr sie fort und versuchte, Staceys Empörung zu überwinden.

„Ja, bei Solstice."

„Das Fitnessstudio direkt gegenüber ihrer Wohnung?“, fragte Jessie und erinnerte sich an den Fitnessclub, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte.

„Toller Arbeitsweg, nicht wahr?", sagte er.

Sie bestellten Kaffee und setzten sich an einen Tisch in der Nähe. Ryan setzte sich ebenso, sprach aber nicht.

„Bevor wir nun dazu kommen, wie Sie sie gefunden haben, Herr Stacey…"

„Nennen Sie mich Vin", sagte er.

„Okay, Vin", sagte sie. „Davor möchte ich, dass Sie uns von Taylor erzählen. Wie war sie so? Freundlich? Ruhig? Gelassen? Überdreht?"

„Ich würde sie nicht als gelassen bezeichnen. Sie war höflich, aber pflegte einen professionellen Umgang mit Kollegen. Zu ihren Kunden hatte sie ein wärmeres Verhältnis, aber es herrschte dennoch Business-Atmosphäre. Das war ihr Ding. Manche Kunden mögen es, wenn ihr Trainer ein gesprächiger bester Freund ist. Das ist irgendwie mein Ding. Andere wollen jemanden, der keinen Unsinn macht und ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen. Dafür war sie die richtige Person."

„Welche Art von Kunden hatte sie hauptsächlich?“, fragte Ryan und sprach zum ersten Mal.

Vin schaute Jessie zögerlich an, als ob er ihre Zustimmung zur Antwort benötigte. Sie nickte beruhigend, und er fuhr fort.

„Alle möglichen. Aber ich würde sagen, dass mehr als die Hälfte von ihnen verheiratete Frauen in ihren Dreißigern und Vierzigern waren. Viele wohlhabende Ehe- und Hausfrauen, die versuchen, ihren Babyspeck loszuwerden oder sich fit zu halten, damit ihre Männer sie nicht für ihre Sekretärinnen verlassen.

„Das war ihr täglich Brot?“, sagte Ryan.

„Ja. Sie konnte diesen Frauen wirklich Mut machen und ihnen das Gefühl geben, dass sie ihr eigenes Schicksal selbst in der Hand haben. Ich bin ein alleinstehender, schwuler schwarzer Mann, und manchmal hat sie es geschafft, mir einzureden, einen Weißen mittleren Alters heiraten zu können.

„Und standen Sie sich nahe?“, fragte Jessie.

Naja", sagte er. „Wir haben manchmal einen Kaffee zusammen getrunken, oder sind ausgegangen. Ich hab sie ein paar Mal spät abends nach Hause gebracht. Aber ich würde nicht sagen, dass wir Freunde waren – eher gute Arbeitskollegen. Ich glaube, sie mochte mich, weil ich einer der wenigen Männer in diesem Club war, die sie nicht ständig angemacht haben.

„War einer von ihnen besonders aufdringlich?“, fragte Ryan.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich beurteilen kann, was Frauen heutzutage als aufdringlich empfinden", gab er zu. „Alles, was ich sagen kann, ist, dass sie nie von einem von ihnen eingeschüchtert schien. Sie hatte kein Problem damit, einen Mann zurückzuweisen, wenn er eine Grenze überschritt."

„Kennen Sie ihren Beziehungsstatus?“, fragte Jessie. „Sie haben den Beamten gesagt, dass sie Single war."

„Ich sagte, dass ich nicht glaube, dass sie derzeit etwas am Laufen hatte. Ich weiß, dass sie vor ein paar Monaten mit einem Typen zusammen war. Aber nachdem Schluss war, hat sie ihr Liebesleben relativ unter Beschluss gehalten. Und es stand mir nicht zu, sie auszufragen, also kann ich auch nichts Näheres dazu sagen."

„Vin", fragte Jessie und beschloss, die Frage zu beantworten, von der sie wusste, dass sie den Rest des Tages damit zu tun haben würden: „glauben Sie, Taylor könnte sich umgebracht haben?“

Er reagierte sofort mit einer Intensität, die sie so von ihm noch nicht kannte.

„Auf keinen Fall. Taylor war nicht der Typ für sowas. Sie war voller Lebensfreude. Sie war einer dieser Menschen, die konkrete Ziele haben. Sie wollte ihr eigenes Fitnessstudio aufmachen. Sie hätte sich niemals selbst umgebracht. Sie war das, was ich gerne als "Marksauger" bezeichne.

„Was bedeutet das?“, fragte Jessie.

„Sie hat das Mark des Lebens ausgesaugt. Sie hätte ihres niemals freiwillig beendet."

Sie alle saГџen einen Moment lang still da, bevor Ryan zu einem weniger philosophischen Thema zurГјckkehrte.

„Kennen Sie den Namen ihres Exfreundes?", fragte er.

„Nein. Aber ich glaube, eine der Trainerinnen im Club könnte es wissen. Ich erinnere mich, dass sie meinte, sie habe gesehen, wie er Taylor einmal nach Hause gebracht hat. Sie hat ihn wohl wiedererkannt."

Als Vin antwortete, drifteten Jessies Augen zum Eingang des CafГ©s, wo ein eindeutig obdachloser Mann hereinkam. Er hatte einen langen Bart und Schuhe mit Sohlen, die so lose waren, dass sie jedes Mal, wenn er einen FuГџ hob, Гјber den Boden schleiften.

Das war jedoch nicht das, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Etwas Rotes tropfte von der linken Hand des Mannes und seine rechte Hand war unter seiner Jacke versteckt. Er murmelte vor sich hin, als er sich zwischen den anderen Kunden hindurch schlich, wobei er scheinbar absichtlich einige von ihnen anstieГџ.

„Wie heißt die Trainerin?“, fragte Ryan. Er saß mit dem Rücken zur Tür und hatte den Mann noch nicht bemerkt.

„Chianti."

„Ist das Ihr Ernst?“, fragte Ryan, lachte unwillkürlich und spuckte ein bisschen von seinem Kaffee aus.

„Ich weiß nicht, ob das ihr Geburtsname ist", sagte Vin und lächelte zum ersten Mal. „Aber im Studio nennt sie sich Chianti Rossellini. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen."

„Warum denke ich, dass das eigentlich nicht Ihre Philosophie ist, Vin?" sagte Jessie archaisch und behielt den Obdachlosen nur halb im Auge.

Vin hob provokativ die Augenbrauen.

„Ich hasse es, euch zu unterbrechen…", sagte Ryan.

„Sie können tun, was Sie wollen, schöner Mann“, unterbrach Vin und machte einen beeindruckenden Augenaufschlag.

Ryan reagierte nicht darauf, sondern sprach weiter.

„Aber wir müssen Sie zu dem Zeitpunkt befragen, als Sie Taylor gefunden haben. Sie äußerten den Beamten gegenüber, das Fenster sei offen gewesen?"

Vins Gesicht verfinsterte sich sofort.

„Nur ein bisschen, ja. Ich habe zuerst geklopft und die Tür überprüft. Sie war verschlossen. Aber als sie nicht reagierte, öffnete ich das Fenster weiter und kletterte hinein. Ich schätze, ich hätte zuerst den Notarzt rufen können. Aber ich dachte, dass ich nicht einfach herumstehen und warten konnte, wenn sie vielleicht verletzt war und Hilfe brauchte.“

„Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Vin", sagte Jessie. „Sie haben sich Sorgen um eine Freundin gemacht. Ich bin sicher, die Beweise werden das belegen."

„Danke", sagte Vin leise.

Jessie hätte emotionaler reagiert, wenn sie nicht so auf den Obdachlosen fixiert gewesen wäre, von dessen Arm Blut tropfte. Er wippte nun von der Ferse bis zu den Zehen hin und her, und seine rechte Hand bewegte sich unter seiner Jacke. Es sah aus, als würde er sich selbst in die Hüfte schlagen. Seine Lippen bewegten sich immer noch, aber was er murmelte, war jetzt nicht mehr hörbar. Die Frau mittleren Alters in der Schlange vor ihm blickte immer wieder nervös zurück.

„Hey, Ryan", sagte sie nonchalant, „schau mal hinter dich zu dem bärtigen Kerl in der Schlange.

Ryan blickte hinГјber, ebenso wie Vin.

„Der, der nicht aufhören kann, seinen Körper und seine Lippen zu bewegen?“, fragte Ryan.

„Ja", bestätigte Jessie. „Er blutet am linken Arm und ich glaube, er versteckt mit seiner rechten Hand etwas unter seiner Jacke."

„Was glaubst du, was es ist?"

„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe einen dunklen, nassen Fleck im Hüftbereich der Jacke gesehen. Ich nehme also an, dass es das ist, was seine andere Hand zum Bluten gebracht hat. Außerdem scheint er ziemlich aufgeregt zu sein. Er hat andere Kunden angerempelt – nicht aus Versehen."

„Das könnte etwas sein", sagte Ryan leise. „Oder er könnte wie die Leute sein, an denen wir auf dem Weg hierher auf der Straße vorbeigekommen sind."

„Das ist wahr", stimmte Jessie zu, „obwohl die ganze Sache mit dem Blut dem Ganzen ein wenig Drama verleiht. Außerdem sehen alle Baristas verängstigt aus und ich wette, hier kommen ständig Obdachlose rein.“

„Gut beobachtet", sagte Ryan und zuckte leicht zusammen, als er aufstand. „Ich glaube, ich sollte mich für einen weiteren Kaffee anstellen. Jessie, vielleicht könntest du den Beamten von draußen informieren und ihn bitten, vorsichtshalber reinzukommen?"

Jessie nickte, stand selbst auf und versuchte, den Schmerz zu verbergen, den sie sowohl in ihrem RГјcken als auch in ihrem Bein verspГјrte, nachdem sie mehrere Minuten lang unbeweglich da gesessen hatte. Als sie zum Eingang des CafГ©s ging, blickte sie Гјber ihre Schulter und sah, dass Ryan direkt hinter dem nuschelnden Mann Stellung bezogen hatte. Sie drГјckte die EingangstГјr auf und winkte dem uniformierten Beamten zu, den sie zuvor drauГџen abgestellt hatten.

„Ich glaube, wir haben hier möglicherweise ein Problem", sagte sie. „Der bärtige Mann, der vor Kommissar Hernandez steht, könnte eine Waffe unter seiner Jacke haben. Wir sind uns nicht sicher, aber wir könnten für den Fall etwas Unterstützung gebrauchen."

Kaum hatte sie ihren Satz beendet, war ein lauter Schrei von drinnen zu hören. Sie drehte sich um und sah die Frau mittleren Alters in der Schlange, ihre rechte Schulter mit ihrer linken Hand umklammern. Hinter ihr kämpfte Ryan damit, dem nuschelnden Mann ein Jagdmesser aus den Händen zu reißen. Doch trotz seines Größenvorteils war es ein verlorener Kampf.

Der andere Mann war rasend vor Zorn, und Ryan hatte eindeutig seine Kräfte noch nicht wieder erlangt. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sich der Mann befreit. Ryan verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden, als der Mann sich neu sammelte und sich auf ihn stürzte.

Jessie eilte wieder hinein und Г¶ffnete ihr Pistolenhalfter, als sie sich auf sie zu bewegte. Sie war gerade dabei, ihre Waffe herauszuholen, als eine schnelle Bewegung vor ihr ablief. Es war Vin Stacey, der sich auf den nuschelnden Mann stГјrzte, seinen Unterarm in den Kiefer des Mannes schlug und ihn keuchend zurГјck gegen den Tresen warf.

Das Messer flog dem benommenen Mann aus der Hand und glitt über den Boden. Vin stand über ihm, bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Aber es war nicht nötig. Einen Moment später saß der Beamte auf dem Mann, drehte ihn auf den Bauch und legte ihm Handschellen an. Jessie steckte ihre Waffe weg und kniete sich neben Ryan.

„Alles okay?", fragte sie besorgt.

„Ja. Ich werde mich erholen, auch wenn ich nicht sicher bin, dass mein Stolz das auch schaffen wird."

Vin näherte sich ihm und streckte seine Hand aus.

„Brauchen Sie Hilfe, schöner Mann?“, fragte er und klimperte mit den Augen.




KAPITEL SECHS


Jessies Vertrauen war erschГјttert.

Als sie und Ryan in der Lobby von Solstice Health & Fitness warteten, während der Geschäftsführer Chianti holte, dachte sie immer wieder an dieses Drei-Sekunden-Fenster zurück, bevor Vin den Obdachlosen zu Boden schlug.

In dieser kurzen Zeit war Ryan gestürzt, ein Mann hatte versucht, ihn zu töten, und Jessie hatte nicht schnell genug gehandelt, um dies zu verhindern. Ohne die schnelle Reaktion eines menschlichen Panzers mit flinken Füßen und einer kleinen Schwäche für gut aussehende Kommissare, könnte Ryan Hernandez jetzt tot sein.

Bevor die Frau, auf die der Obdachlose eingestochen hatte, ins Krankenhaus gebracht wurde, hatte einer der Rettungssanitäter Ryan untersucht und ihm Entwarnung gegeben. Aber Jessie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie beiden wirklich bereit für einen neuen Einsatz waren.

Ihre innere Unruhe wurde unterbrochen, als der Geschäftsführer sie anwies, sich in die obere Etage zu begeben. Als sie nach oben gingen, verdrängte sie diese Bedenken aus ihrem Kopf und versuchte, sich auf den vorliegenden Fall zu konzentrieren. Als sie oben ankamen, warf Jessie einen Blick in die Fitnesshalle und versuchte, sich nicht von der dröhnenden Housemusik Kopfschmerzen bereiten zu lassen.

Im großen Hauptraum befand sich eine scheinbar endlose Anzahl an Kardiogeräten. Links davon befand sich der Gewichts-"Raum", der so riesig war, dass sie nicht einmal sehen konnte, wo er endete. Rechts lagen zwei Dutzend Matten, die zum Dehnen und – zumindest gerade – zum Chatten oder Telefonieren gedacht waren.

Der Geschäftsführer, ein Mann mit Schnurrbart namens Frank Stroup, wartete neben einer schlanken, aber durchtrainierten blonden Frau Ende zwanzig, die ein Make-up trug, das Jessie für das Fitnessstudio für viel zu viel hielt. Ihre Zähne waren unnatürlich weiß und ihre Brüste wurden von einem Sport-BH zusammengepresst, der mehrere Größen zu klein aussah.

„Kommissare", sagte der Geschäftsführer und vergaß dabei, dass nur einer von ihnen diesen Titel trug: „Das ist Chianti Rossellini. Ich lasse Sie mit Ihren Fragen allein. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen weiterhelfen kann."

Jessie nickte höflich. Er war eigentlich überhaupt keine große Hilfe gewesen. Abgesehen davon, dass er die Eckdaten von Taylors Beschäftigungsverhältnis vermittelte, schien er wenig über ihr Leben zu wissen. Die Einrichtung mag zwar riesig gewesen sein, aber Jessie fand es seltsam, dass der Mann nicht mehr über eine Trainerin zu sagen hatte, von der Vin angegeben hatte, dass sie mit einigen ihrer wohlhabendsten Mitglieder arbeitete. Sie hatten es absichtlich vermieden, ihm gegenüber ihren Tod zu erwähnen. Aber Jessie hatte zumindest erwartet, dass er wissen wollte, warum sie seit zwei Tagen nicht auf der Arbeit erschienen war.

Als er ging, starrte Chianti sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugierde an. Sie schien zu glauben, dass sie in Schwierigkeiten war. Aber ihre Körpersprache ließ vermuten, dass sie sich nicht sicher war, weshalb.

„Frau Rossellini", begann Ryan, der es schaffte, nicht mitten im Satz zu kichern, „wie gut kennen Sie Taylor Jansen?

„Sie können mich Chianti nennen", antwortete sie, ohne zu wissen, wie herausfordernd das sein könnte. „Ich kenne sie. Ich meine, wir arbeiten im selben Fitnessstudio. Wir haben täglich miteinander zu tun. Aber ich würde nicht sagen, dass wir Freunde sind oder so. Taylor ist sehr auf ihre Kunden fokussiert und plaudert nicht viel. Worum geht es hier überhaupt? Hat sie etwas falsch gemacht?"

„Dies sind nur Routinefragen. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen", sagte Jessie, die nicht bereit war, die Wahrheit zu enthüllen, bevor sie nicht ihren Zwecken diente. „Was können Sie uns über ihren Ex-Freund erzählen, der sie manchmal zur Arbeit gebracht hat?"

„Oh, Gavin. Gavin Peck."

„Erzählen Sie uns von Gavin, Chianti", sagte Jessie.

„Okay", sagte sie und verlor ihr Unbehagen. „Gavin ist durchtrainiert. Er ist auf jeden Fall gut gebaut. Ich glaube, er hat sogar schon ein paar Bodybuilder-Wettbewerbe gewonnen. Und er ist, wie sagt man so schön, impulsiv."

„Wie meinen Sie das?“, fragte Ryan.

„Er trainiert einfach super intensiv. Ich habe in dem Fitnessstudio, in das er geht, trainiert, und er war immer richtig aufgedreht – mit richtig viel Energie. Taylor ist auch sehr energiegeladen. Aber auf eine kontrolliertere Art und Weise. Er neigt dazu, aufbrausend zu sein."

„Ist er bei Taylor jemals aufbrausend gewesen?“, fragte Jessie.

„Ich habe sie nur ein paar Mal zusammen gesehen und er war nie so mit ihr. Aber ich glaube, er hat die Trennung nicht gut verkraftet."

„Warum sagen Sie das?“, fragte Ryan und warf Chianti seinen besten „mich interessiert wirklich, was du sagst“-Blick zu. Sie schmolz fast vor seinen Augen dahin.

„Ich habe gehört, dass er ein paar Mal hier war und die Sicherheitskräfte ihn bitten mussten, zu gehen", sagte sie und wurde dabei leicht rot. „Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Aber es klingt nach Gavin. Er hat etwas von einem Stalker. Außerdem könnte er Grund zur Eifersucht haben."

„Weshalb?“, wollte Jessie wissen.

„Ich will nicht aus dem Nähkästchen plaudern oder so, aber Taylor flirtet auch mal ganz gerne mit ihren Kunden."

In diesem Moment kam ein bleicher, dicker, ca. dreißigjähriger Kerl in einem ärmellosen grauen Hemd vorbei.

„Hallo, Chianti", sagte er schüchtern.

„Hey, Brett, steht unser Termin für 11 Uhr noch?", fragte sie und zeigte ihre Zähne.

„Natürlich."

„Ausgezeichnet, Schätzchen. Wir werden diesen Bizeps Muskeln zaubern, okay? Wir sehen uns später."

Als er ging, verflüchtigte sich das Lächeln, und sie schenkte sofort ihre Aufmerksamkeit wieder Jessie.

„Wo waren wir?", fragte sie.

„Sie sagten, Taylor würde gerne flirten", erinnerte Jessie sie.

„Stimmt."

„Wirklich?“, fragte Jessie. „Wir haben gehört, dass sie sehr professionell arbeitet."

„Im Studio, sicher. Aber ich habe gehört, wie sie telefonisch Termine für private Trainingseinheiten ausgemacht hat. Das Management missbilligt das offiziell, also macht sie es heimlich. Aber ihr Tonfall bei diesen Anrufen war definitiv weniger… professionell."

„Glauben Sie, dass sie mehr als nur Trainingseinheiten anbietet?“, fragte Jessie gerade heraus.

„Das kann ich nicht sagen", antwortete Chianti achselzuckend. „Ich meine, wer weiß, ob sie promiskuitiv oder nur eine Aufreißerin ist. Wie auch immer, die Manager haben ein Auge zugedrückt, weil so viele ihrer Kunden sehr großzügig sind. Sie wollten nicht riskieren, ihre Mitgliedschaft zu verlieren, wissen Sie? Aber manchmal kommt sie tagelang nicht, und niemand sagt ein Wort. Wenn ich das tun würde, hätte ich die Kündigung im Handumdrehen. Tatsächlich habe ich sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ich dachte mir, es ist mal wieder soweit. Aber jetzt haben Sie mich beunruhigt. Geht es ihr gut?"

Jessie warf Ryan einen Blick zu und teilte ihm mit, dass sie die Zeit fГјr richtig hielt. Er nickte zustimmend und trat nahe an Chianti heran.

„Ich fürchte nicht", sagte er leise. „Taylor ist tot."

Jessie beobachtete Chianti genau, als sie die Nachrichten aufnahm. Das plastische Lächeln der Trainerin verschwand sofort. Sie sah ungläubig aus.

„Wie bitte?“

„Taylor Jansen wurde heute Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden", sagte Ryan emotionslos.

Chianti schien die Informationen zu verarbeiten und erkannte erst jetzt den Zweck all der Fragen, die ihr gestellt worden waren. Ihr Gesicht verwandelte sich ziemlich schnell vom Schock in eine Mischung aus Sorge und Neugier.

„Wurde sie ermordet? Hat Gavin es getan?"

In ihrer Stimme fehlte es an Einfühlungsvermögen, so dass Jessie Lust gehabt hätte, sie zu schlagen. Sie waren zwar keine Freundinnen, aber konnte die Frau nicht wenigstens einen Moment der Trauer vortäuschen? Leider deutete ihre Reaktion nach Jessies Erfahrung auch nicht auf Schuldgefühle hin.

Der Blick auf ihrem Gesicht, der nach Gossip dürstete und ihr Wunsch, Details zu erfahren, deuteten darauf hin, dass sie noch nichts wusste. Ryan hatte zwar Recht, dass jeder verdächtig war, aber Jessies Profiling-Hintergrund deutete ihr nachdrücklich an, dass Chianti nicht wirklich verdächtig war.

„Wir haben zu diesem Zeitpunkt keine Informationen über die Todesursache", sagte Ryan und fügte dann widerwillig hinzu: „Kam Ihnen Taylor jemals deprimiert vor?

„Oh wow", sagte Chianti, und ihre Augen weiteten sich. „Hat sie sich umgebracht?"

„Beantworten Sie bitte einfach die Frage, Frau Rossellini", schnappte Jessie und verlor die Geduld.

Chianti sah leicht verletzt aus, aber nach einem Moment antwortete sie.

„Nein", gab sie zu und klang dabei enttäuscht. „Eigentlich erschien sie mir immer ziemlich ausgeglichen. Sie war nie zu aufgedreht oder zu traurig. Ich wäre wirklich überrascht, wenn sie sich das selbst angetan hätte."

Auch Jessie versuchte, ihre eigene Enttäuschung zu verbergen. Bislang hielt niemand, mit dem sie gesprochen hatten, Taylor für einen wahrscheinlichen Selbstmordkandidaten. Und doch hatten sie, zumindest bis jetzt keine Beweise, die darauf hindeuteten, dass es sich um etwas anderes handelte.

„Fällt Ihnen außer Gavin noch jemand ein, der ihr gegenüber feindselig gewesen sein könnte – vielleicht ein Kunde?", fragte sie.

Chianti dachte einen Moment lang nach.

„Niemand, der mir spontan einfällt. Ich habe nicht so genau hingehört. Aber die Kunden waren im Allgemeinen zufrieden mit ihr. Zum Teil lag das daran, dass sie eine gute Trainerin war. Und es könnte auch auf die anderen Gründe zurückzuführen sein, die ich erwähnt habe, um nicht schlecht über Tote zu sprechen.

„Nein, natürlich nicht", sagte Jessie, während Ekel in ihrer Brust aufstieg. „Vielleicht können Sie hier Schluss machen, Kommissar Hernandez. Ich brauche frische Luft."

Sie nickte Chianti zu und ging abrupt, an Brett vorbei und aus dem Fitnessraum. Er war an ein Laufband gelehnt und wartete darauf, dass seine nicht gerade flirtbereite Trainerin das Gespräch beendete, damit er seine Session mit ihr beginnen konnte.

Jessie verlieГџ das Fitnessstudio und trat auf die schmutzige, verstopfte StraГџe von Hollywood, wo sie sich irgendwie weniger schmutzig fГјhlte als in Gegenwart von Chianti.




KAPITEL SIEBEN


Jessie verkrampfte sich. Sie näherten sich und sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde.

Nachdem sie Hollywood verlassen hatten, fuhren sie zurück zum Revier. Diesmal hatte sie darauf bestanden, zu fahren. Ihre sarkastische Erklärung für Ryan, der normalerweise fuhr, war, dass Frauen in dieser Gegend fahren durften und sie schließlich nicht Fräulein Daisy war.

Aber das war nicht der wahre Grund. Sie wusste, dass sie, wenn sie fahren würde, eine Route nehmen könnte, die an dem Haus vorbeiführte, in dem ihre kürzlich verwaiste Stiefschwester, Hannah Dorsey, derzeit bei einer Pflegefamilie lebte. Logischerweise wusste sie, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Mädchen draußen sein würde, wenn sie vorbeifuhr, gering war. Aber sie musste es zumindest versuchen.

Auf dem Weg versuchte sie, ihre aufkommende Angst zu verringern, indem sie tatsächlich auf das achtete, was Ryan sagte. Er kommentierte die Sterilität von Taylors Wohnung.

„Es macht jetzt viel mehr Sinn, dass ihre Wohnung so leer war", bemerkte er. „Wenn das, was Chianti gesagt hat, wahr ist, hat sie vielleicht tagelang bei einem Kunden zu Hause verbracht, sei es aus legitimen oder anderen Gründen. Sie brauchte nur eine Grundausstattung in ihrem Zuhause. Vielleicht kam sie eines Tages einfach nach Hause, blickte sich um und sah, wie trostlos ihre Wohnung war und beschloss, ihr Leben zu beenden.“

„Vielleicht", sagte Jessie, als sie rechts abbog und jetzt nur noch einen Block von Hannahs Pflegeheim entfernt war. „Aber sie scheint nicht der Typ dafür zu sein. Ich meine, man weiß nie, was im Inneren eines Menschen vorgeht. Aber niemand meinte, dass sie jemals depressiv wirkte. Ich denke, der toxikologische Bericht wird uns Aufschluss geben."

„In der Zwischenzeit könnten wir in ihrer Familie nach einer Vorgeschichte von Depressionen oder sowas suchen", schlug Ryan vor.

„Es ist einen Versuch wert", sagte Jessie. „Aber während der Rettungssanitäter im Café dich untersucht hat, habe ich noch ein wenig mit Vin gesprochen. Er erwähnte, dass sie keine Familie in der Gegend hat und dass sie sowieso wenig Kontakt hatten. Ich vermute, dass die Suppe im Gefrierschrank ihrer Mutter ein erfolgloses Friedensangebot war. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Einsicht sie uns gewähren können. Ich denke, die Selbstmordidee ist ein Ablenkungsmanöver."

„Wie kannst du dir da so sicher sein?", fragte er.

„Ich bin mir nicht sicher. Aber findest du es nicht verdächtig, dass es keine Notiz oder irgendeinen Hinweis darauf gab, dass sie depressiv war? Oder dass ihr Fenster offen war?"

„Vielleicht wollte sie eine kühle Wohnung, nachdem sie nach Hause gekommen war", suggerierte Ryan. „Das ist viel billiger als eine Klimaanlage."

Jessie blickte zu ihm hinГјber und konnte sehen, dass selbst er die Theorie nicht glaubte.

„Ungeachtet dessen", fuhr er fort, ohne ihre Skepsis zu kommentieren, „schickt uns die Hollywood-Abteilung Kopien aller gesammelten Beweisstücke. Wir können ihre Klientenliste durchgehen und sehen, ob uns jemand auffällt."

„Was haben die Hollywood-Leute denn dazu gesagt, dass wir sie vertreten haben?“, fragte Jessie.

„Sie sind ziemlich nachtragend, wie man es auch erwarten würde", sagte er. „Aber ich war kryptisch und meinte, der Fall könnte mit einer laufenden Untersuchung verbunden sein. Sie wollen sich nicht einmischen, wenn es um etwas Großes geht, also haben sie nachgegeben. Alle Dokumente sollten bei unserer Ankunft bereits auf dem Revier sein."

„Klingt gut", sagte Jessie und bemerkte die Enge in ihrem Hals. Sie war gerade in Hannahs Straße gebogen.

Sie verlangsamte bis zum ausgehängten Tempolimit und benutzte die kleinen Hügel auf der Straße gerne als Entschuldigung. Das Haus lag auf der linken Seite. Es war ein unauffälliges Haus im Ranch-Stil. Auf der vorderen Veranda befand sich eine Hängematte, in der niemand lag, was an einem Wochentag zur Mittagszeit durchaus nachvollziehbar war. Dennoch spürte sie Enttäuschung.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Selbst wenn Hannah dort gewesen wäre, was hätte sie getan? Es wurde ihr ausdrücklich von der Familienfürsorge für Kinder, ihrem Chef Decker, und von ihrer eigenen Therapeutin, Dr. Janice Lemmon, verboten, Kontakt mit dem Mädchen aufzunehmen.

Es war ein vernünftiges Verbot. Erst vor acht Wochen war die einzige Familie, die das Mädchen jemals kannte, vor ihren Augen abgeschlachtet worden. Das war mehr als genug für jede Siebzehnjährige, um damit fertig zu werden. Aber wie würde sie damit umgehen, wenn sie erfuhr, dass der Mann, der es getan hatte, ihr leiblicher Vater war? Und dass die Frau, die er fast zu Tode gefoltert hatte, ihre Halbschwester war?

Natürlich konnte man von niemandem erwarten, dass er all dieses Grauen ertrug und trotzdem funktionierte. Hätte sie diese Tatsachen einfach verdrängen sollen, indem sie sich auf ihren Mathetest oder die Fertigstellung von Moby Dick konzentrierte? Es war verrückt, das von ihr zu verlangen.

Und doch verspürte Jessie eine tiefe Sehnsucht, genau das zu tun. Sie unterdrückte das Verlangen, als sie am Haus vorbeifuhren. Ryan, der keine Ahnung von der Bedeutung des Hauses hatte, oder auch nur davon, dass sie eine Halbschwester hatte, schien ahnungslos, was sie als Zeichen dafür wertete, dass sie sich gut verstellte. Als sie in die nächste Straße einbog, erinnerte sie sich an ihre letzte Therapiesitzung mit Dr. Lemmon und versuchte, sich an das zu erinnern, was die Frau gesagt hatte.

Janice Lemmon wusste, wovon sie sprach, und war nicht jemand, den man leichtfertig übergehen sollte. Sie war weit über sechzig und sah mit ihrer dicken Brille und ihrer blonden Dauerwelle vielleicht nicht gerade imposant aus. Aber sie war nicht nur eine hoch angesehene Verhaltenstherapeutin, sondern auch eine legendäre Kriminalprofilerin, die noch immer gelegentlich Fälle für das LAPD, das FBI und andere Organisationen, die eine streng geheime Sicherheitsfreigabe verlangten, übernahm.

Es war Lemmon, die Jessie, damals eine verheiratete Studentin, mit dem Kriminologieprofessor bekannt gemacht hatte, der ihr Zugang zu Bolton Crutchfield verschafft hatte, während er inhaftiert war. Es war Lemmon, die Jessie die Anstellung als Profilerin in der Abteilung verschafft hatte.

Und während sowohl Decker als auch Hernandez Empfehlungen ausgesprochen hatten, trug sie auch maßgeblich dazu bei, dass Jessie in das zehnwöchige Trainingsprogramm aufgenommen worden war, das sie kürzlich an der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, absolviert hatte. Dort hatte sie an der berühmten Einheit für Verhaltenswissenschaften studiert und ein intensives körperliches Training absolviert, das auch Waffenkunde und Selbstverteidigungskurse umfasste.

Janice Lemmons Meinung war ernst zu nehmen, und Jessie versuchte, sich daran zu erinnern. Als sie in ihrem gemГјtlichen BГјro auf tiefen Ledersesseln saГџen, fragte die Psychologin sie mit ihrer ruhigen, zurГјckhaltenden Stimme, was es ihrer Meinung nach fГјr Hannahs Psyche bedeuten wГјrde, mit all den Informationen umzugehen, die ihr derzeit vorenthalten wurden.

„Es würde sie fertig machen", gab Jessie zu.

„Und nicht nur körperlich, sondern auch seelisch, Jessie", sagte Dr. Lemmon. „Sie sind eine erwachsene Frau, die sich beruflich mit Mördern und Serienmördern beschäftigt. Und Sie halten kaum noch durch. Stellen Sie sich vor, wie ein Mädchen ohne Erfahrung oder Bewältigungswerkzeuge mit dieser Art von Wissen umgehen soll. Sie würde emotional zerbrechen."




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